Weihnachtliches Sechstagerennen
6.Kapitel: 2001 – Quo vadis In Extremo?
In der DDR gab es eine sehr einfache Erklärung für den jährlich immer wieder zur selben Jahreszeit über uns hereinbrechenden Ausnahmezustand: Einer der 4 Hauptfeinde des Sozialismus hatte wieder zugeschlagen – der Winter! Während aber unterdessen beim großen Bruder, im ehemaligen Reich Lenins, die Transsibirische Eisenbahn munter ungestört von Moskau nach Wladiwostok zuckeln konnte, war man in hiesigen Gefilden vom plötzlichen Wintereinbruch immer wieder aufs Neue heftig überrascht. Aber wie man 2001 wieder feststellen konnte, hat daran auch der Systemwechsel nichts geändert – trotz 12jähriger Eingewöhnungszeit der verweichlichten Westgermanen. Plötzlich dreht sich, trotz ABS und High-Tech-Reifen kein Rad mehr, stehen LKW zur Freude der Autofahrer wieder in 4er-Reihen an bayrischen Berghängen und bricht der Zugverkehr wieder einmal total zusammen. Vielleicht hat sich aber auch nur das Wodkatrinken noch nicht genügend durchgesetzt. Mit dieser russischen Geheimwaffe sollte doch einiges zu richten sein. Trinker tuntiger Mixgetränke und sonnenverwöhnter Rotweine sollten dahingegen zum ADAC-Pflichtbeitritt gezwungen werden…
Die eigentliche Hauptschuld trifft jedoch immer noch die Gemeine Schneeflocke (lateinisch brutalis brutalis), die, in Rudeln auftretend, durch ihre äußerst aggressive Art immer wieder für Verwirrung und Verwunderung sorgt. Diese fiesen kleinen und unberechenbaren Winzlinge sollten uns nun die komplette Weihnachtstour über begleiten:
Los ging es am 1. Weihnachtsfeiertag mit unserer diesjährigen Kurzteilnahme am „Dark Storm Festival“, in Kennerkreisen auch das „Festival der Lebensfreude“ genannt. Spätestens hier in Zwickau wäre der Gekreuzigte (hätte er denn zuhören können) zum zweiten Mal für uns gestorben – angesichts der geballten Ladung an Tod, Blut und Verzweiflung, welche die Kapellen vor uns von der Bühne brachten. Ich möchte hier ja nicht den berühmten ersten Stein werfen, aber es wird mir wohl ewig im Verborgenem bleiben, welchen Narren die Szene an In Extremo gefressen hat – in Anbetracht unserer ja eher heiteren Musikauswahl. Jedenfalls kam ich mir mit meinem dezent blauen Pullover im Publikum irgendwie scheiße vor…
Ebenso schleierhaft wird es den angetretenen Musikanten wohl auch bleiben, was am Veranstaltungsort Zwickau denn nun besser gewesen sein sollte als am ursprünglich vorgesehenen „Kraftwerk“ in Chemnitz?!
Unserem Tourbegleiter Dirk konnte es egal sein, wurde er doch unser erstes winterliches Touropfer und musste sich stattdessen auf irgendwelchen südsächsischen Umsteigebahnhöfen den Arsch abfrieren. Tja, früher gab es sogar im kleinsten Kaff noch die „Mitropa“, diesen Lichtblick ostdeutscher Spitzengastronomie. Und Wodka! Aber das soll sich ja heute nicht mehr lohnen. Wir hingegen hatten es da wesentlich besser in der heimeligen Klubatmosphäre des Zwickauer Alarm: Umfallen ging nicht und warm genug war es auch. Und überhaupt: Eine echte Rockband spielt dort, wo eine Steckdose ist!
Das völlige Kontrastprogramm hingegen bot sich am nächsten Tag in Bremen, das Pier 2 hatte im Gegensatz zu Zwickau geradezu gigantische Ausmaße. Und den weltweit schönsten Nightliner-Standplatz: direkt am Hafenbecken.
Gegen 13.00 Uhr dann, wenn der lustige Musikant sich nach schwer durcharbeiteter Nacht langsam auf der Suche nach Frühstück in die Halle verirrt, begeistert er gern die dort seit 6.00 Uhr früh hart arbeitenden Werktätigen mit lustigen Trinksprüchen wie: „Ah, hier wird schon gearbeitet!“ Ganz die mitfühlende Kapelle, die dann auch folglich, zumindest unter den Roadies, sofort 10 dufte Kumpels dazugewonnen hat. Aber auch dieser falsche Eindruck verflüchtigt sich dann mit fortschreitender Uhrzeit zusehends. Gegen 17.00 Uhr liefen dann auch BOON, heute zum 2. Mal als unser Support mit am Start, in Bremen ein. Irgendwie waren ja beide Bands beim Heimspiel in der Berliner Columbiahalle supernervös, hier in Bremen durfte nun etwas relaxter an die Sache herangegangen werden. Zum Konzert nur so viel: Für mich persönlich war es natürlich ein großartiges Gefühl, nach meiner Krankheit wieder mit auf Tour sein zu können. Und Bremen bot alle Voraussetzungen für ein wirklich gutes Konzert. Ich denke, das ist uns auch gelungen.
Nach fast genau einem Jahr waren wir dann am folgenden Tag wieder zu Gast im Osnabrücker Hydepark. Und nach einem Blick aus dem Busfenster wollten wir eigentlich weiterschlafen, da wir uns in Sibirien wähnten. Dazu gab es die berühmte „Osnabrücker Gemütlichkeit“ im Backstage (na ja, viel wurde ja nicht in den Laden investiert seit dem vergangenen Jahr, aber wir wollten mal nicht so kleinlich sein…). Schließlich sollten wir ja Musik machen und nicht dort einziehen. Zumindest begrüßten uns beim Eintritt keine Pinguine mehr, aber dafür ein gewisser „Frankie“, der seit den frühen Vormittagsstunden irgendwie pausenlos im Weg rumstand und auf Autogramme scharf war. Um seine Qualen abzukürzen erkor ihn die gutgelaunte Band kurzerhand zum Gewinner des Preisausschreibens „Ein Tag mit In Extremo“ – mit allen Schikanen natürlich. Und ihr wisst, wie nett diese Band sein kann!!!
Endlich war der 28.12. und es ging ein paar hundert Kilometer weit nach Nürnberg. „Endlich“ heißt in diesem Falle, ab heute war offizieller Verkaufsbeginn von Silvesterknallern, was die Band auch sofort zu einem ausgedehnten Stadtbummel animierte (bis auf den Bassisten natürlich, welcher sich in weiser Voraussicht natürlich schon Wochen vorher in der „Metro“ – und das zum Einkaufspreis – mit ausreichend Munition bewaffnet hatte). So ging dann auch, mit prall gefüllten Taschen, Herr Dr. Pymonte bei der örtlichen Technikfirma „mal nach dem Rechten sehen!“, was so viel hieß, sich bei der arbeitenden Bevölkerung wieder einmal äußerst beliebt zu machen.
Der hiesige Löwensaal war ein altes Gebäude, was sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte und in dem das letzte Konzert vor 10 Jahren stattfand. Ein runder Saal mit ebenso runder Empore und dem dazugehörigen üblen Ton – zumindest so lange kein Publikum drin war. Der Soundcheck hatte demzufolge auch eher symbolischen Wert, so dass ich mir mitten im 2. Song die selbstverordneten Ohrenstöpsel wieder herausnehmen musste. Für das Publikum war es natürlich klasse, so direkt über der Bühne zu sitzen. Leider war der humorlose Typ auf meiner Seite (immer auf meiner Seite!) entweder geisteskrank oder ein Ordner. Den hätte höchstens ein Erdbeben aus der Reserve gelockt. Gott seid Dank war das der einzige dieser Sorte. Ansonsten war es superheiß und superausverkauft! Im Übrigen gab es hier heute eine Premiere zu feiern (es gibt doch immer einen Grund): Das 1. Mal Pyrotechnik in Nürnberg. Doch bevor es weiter nach Mannheim geht, fällt mir doch ein alter Plan wieder ein, den wir leider zwecks äußerer Umstände 1986 so nicht mehr ganz realisieren konnten. Mit meiner alten Band Freygang hatten wir damals die geniale Idee, etwas Reisekosten und Nerven zu sparen, um uns das Leben gegenseitig zu erleichtern. Der Plan war der, dass die Band 7 Tage lang an ein und demselben Ort auftritt, sagen wir mal in der Mitte Deutschlands, das wäre heute dann etwa Eisenach (um die Wiedervereinigung nicht zu ignorieren). Nach 14tägigem Erholungsurlaub der Kapelle geht es dann weiter in den Norden, vielleicht nach Wilhelmshaven. Danach geht es im Uhrzeigersinn über Frankfurt/ Oder, Freiburg und Saarbrücken im Prinzip wieder zurück nach Eisenach – unter Einbehaltung der entsprechenden Erholungszeiten versteht sich. (Wir werden ja auch nicht jünger). Dieses System hätte mehrere Vorteile:
1. Steuerliche: Man könnte ja sagen, man wäre jeden Tag nach dem Konzert nach Hause gefahren, um die Fahrkostenpauschale auszunutzen
2. Zweierbeziehungsmäßige/ Teil 1: Man könnte sich besser kennen lernen
3. Zweierbeziehungsmäßige/ Teil 2: Man könnte u.U. noch zusammen frühstücken gehen
4. Monetäre: Man könnte sparen und die Kohle lieber in Aktien anlegen oder versaufen
5. Drogentechnische: Man kann den Führerschein behalten und trotzdem saufen
6. Touristenmäßige: Man fördert durch seine Anwesenheit unerschlossenes Tourismusterrain (ich sage nur: Frankfurt/ Oder!!!)
7. Und so weiter
Nachteile: faktisch keine!
Die Mittelaltermärkte waren also schon ein Weg in die richtige Richtung und so gesehen ja
Praktisch eine alte Freygang-Erfindung! Ich werde mir das also umgehend patentieren lassen
müssen.
Nun aber Mannheim/ Capitol. Irgendwie fühlen wir uns hier schon total zu Hause. Dazu gab es Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Zumindest Clauzzen, unserer mexikanischen Freundin, die uns heute mit Doro besuchen kam, hat das alles sehr gut gefallen. Ist ja auch kein Wunder, in Mexiko regnet es ja sonst allenfalls etwas Asche vom Popu…was-weiß-ich-Vulkan.
An Pyrotechnik brauchten wir seit Michas Unfall natürlich nicht mal mehr denken, aber das spielt hier in Mannheim ja eher eine Nebenrolle, da es ja auch niemand mehr wirklich von uns erwartet. Dafür gab es Backstage von der „Caritas“-Krankenwagenbesatzung etwas Sauerstoff aus der Flasche. Ganz gut, ehrlich, aber es soll bessere Spaßmacher geben! Den pyrotechnischen Teil übernahm die Band heute, mit der Nürnberger Restmunition bewaffnet, in der nächstgelegenen Bar, wo zum abschließenden „Scheidebecher“ geblasen wurde.
Bleibt noch der letzte Tag im Düsseldorfer Tor 3, wie in jedem Jahr der gefährlichste Tourtag überhaupt! Einerseits ist das Tourende nah, was natürlich auch irgendwie gefeiert werden will, andererseits wartet die Silvesterparty am nächsten Tag – wo man natürlich relativ fit (zumindest erstmal) sein sollte, um ein frühzeitiges Aufschlagen des Kopfes auf die Tischplatte zu verhindern. Und auch die eine oder andere Rakete möchte natürlich noch abgefeuert werden und auch das verlangt eine gehörige Portion Konzentration. Aber wie das mit den guten Vorsätzen so ist… Na jedenfalls schlich der letzte Kollege kurz vor der Raststätte Michendorf, das sind für die Nichteingeweihten so etwa 40 km vor Berlin, in die Buskoje. Andererseits hätten wir auf der Autobahn ja auch einschneien können und das Fest auf der A 2 zwischen Gütersloh und Garbsen verbringen können. Schade, dass der ADAC nicht diese Bernhardiner mit den Rumfässchen am Hals unter Vertrag hat, so hätte selbst das eventuell sogar lustig werden können. Der Schweizer denkt da irgendwie praktischer. Aber wie gesagt: „The same procedure every year“, in diesem Sinne, Die Lutter
(aus dem Tourtagebuch 2001)
Ein merkwürdiges Jahr, mit einer der für mich wohl schönsten Touren, ging zu Ende. „Quo Vadis In Extremo?” fragte ich mich immer noch, doch nun um einiges beruhigter als noch am Jahresanfang. Diese Band hatte echt Qualität bewiesen und ließ niemanden so einfach im Stich. Der Zusammenhalt und die Freundschaft untereinander ist wohl unsere wahre Stärke und durch nichts zu ersetzen. Und besonders ich wusste das von nun an umso mehr zu
schätzen!
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