Was soll ein armer Junge denn anderes tun…?
1.Kapitel – Die Theorie vom Urknall
Ich weiß leider nicht mehr ganz genau, wann ich Michael Rhein das allererste Mal begegnet bin. Es muss so im Januar 1985 gewesen sein. Meine damalige Band Freygang musste nach über zweijährigem Spielverbot wieder eines dieser absurden Einstufungskonzerte ablegen, bei denen eine Kommission aus Kulturfunktionären der Stadt, durch die Bank weg verhinderte Musiker oder Hilfspoeten aus dem „Klub der schreibenden Arbeiter“, über den künstlerischen Gehalt und die weiteren Geschicke einer Band entschieden. Jede Amateurband in Ostdeutschland musste dieses Procedere im Rhythmus von 2 Jahren über sich ergehen lassen, nun waren wir also an der Reihe. Hatte sich eine Band in der Vergangenheit schon „etwas zu Schulden kommen“ lassen, wurde man umso genauer unter die Lupe genommen. Bei Freygang war genau das der Fall: Das Aussehen, die langen Haare, die eigenen Texte… was soll ich dazu noch sagen? Man brauchte nicht allzu viel, um in diesem Land aufzufallen. Also bemühten wir uns krampfhaft um einen dieser Termine. Es war leider überlebensnotwendig für eine Band und auch der einzige Weg „die Pappe“ zu erhalten, die sogenannte Spielerlaubnis. Ohne diese sogenannte Spielerlaubnis ging in diesem Land leider überhaupt nichts. Es klappte und zu unserem großen Glück durften wir zu diesem Termin sogar im Berliner Franz-Klub auftreten, dem angesagten Live Klub im Prenzlauer Berg – wenn auch nur im Vorprogramm der Berliner Bluesband Monokel. Egal, Hauptsache war, erst einmal wieder auf der Bühne stehen zu können und vielleicht – so Gott es wollte – die Spielerlaubnis zu erhalten. Zumindest für unsere Band war das, nach einen langen Spielverbot, nicht gerade selbstverständlich.
Freygang war eine Kultband und mindestens ¾ der Besucher waren heute Abend auch einzig und allein wegen dieser Band da. So auch Michael. Er kam extra den langen Weg von Thüringen nach Berlin, um uns zu sehen. Im Osten konnte man ja nie wissen, ob es nicht doch das letzte Mal wäre…
Michael hatte mit No.13 bereits eine eigene Band in seiner Heimatstadt Leinefelde gegründet. Und warum machte man mitten in der tiefsten Provinz dieses Landes eine Band auf? Was soll ein armer Junge denn schon anderes tun, als in einer Rock’n’Roll-Band zu spielen, klagte auch Mick Jagger schon in den 60ern. Die Beweggründe, als junger Mensch eine Band zu gründen und damit etwas ganz besonderes erreichen zu wollen, waren in England wie in der DDR und auch anderswo ja dieselben.
Micha verfolgte die Geschichte von Freygang, eigentlich genau wie ich, schon seit geraumer Zeit. Irgendwann in seiner Jugend hatte er die Band für sich entdeckt und gedacht: „Hey, das kann ich aber auch selbst machen!“, suchte sich ein paar Gleichgesinnte und reiste fortan mit einer eigenen Band, eben No.13, durch die Lande. Im Prinzip unterschieden wir uns da nicht so großartig voneinander, nur dass ich gewissermaßen das Glück hatte, beim Original zu landen.
Freygang bestand die Einstufung und durfte schon bald, wenn auch unter einem ganzen Berg von absurden Auflagen, wieder öffentlich spielen – zumindest bis zum nächsten Verbot. Und irgendwann in der Zwischenzeit, nämlich ganz genau am 10.Mai 1986, sollten wir dann zum allerersten Mal zusammen auftreten, ganz tief in der allertiefsten Thüringer Provinz, genauer gesagt in Bad Tennstedt: Freygang aus Berlin und No.13 aus Leinefelde!
Nicht zuletzt wegen dem Sänger der Kapelle No.13, Herrn Michael Rhein, kann ich mich bis heute noch recht gut an diesen Abend erinnern, denn es kommt selten vor, dass eine Vorband es sich wagt, fast das komplette Repertoire der Hauptband in ihrem eigenen Programm zum Vortrag zu bringen. Aber wir waren nicht wirklich sauer darüber, war doch eine der Freygang-Botschaften (wenn es denn überhaupt so etwas gab): „Macht Eure eigenen Bands auf und stellt Euch selbst auf die Bühne!“ Nichts anderes hatten Michael und seine Band gemacht, wenn er es an diesem Abend vielleicht auch etwas übertrieben hatte. Den Leuten war es egal, gab es doch sowieso keine Tonträger mit dieser Musik. Doppelt hält eben manchmal auch besser!
Fortan liefen wir uns des Öfteren über den Weg. Ich hatte diesen Typen sowieso auf dem Zettel, so etwas vergisst man eben doch nicht so leicht. Aber wir waren uns von Anfang an sympathisch und sein damaliges Zuhause, die Südstraße 13 in Leinefelde, war für uns immer ein willkommenes Quartier, wenn wir mal wieder in der Gegend waren. Hotels scheuten Bands wie die unsrige wie der Teufel das Weihwasser.
Die Karriere von No.13 verlief ebenso kurvenreich wie die von Freygang. Wir wurden im September 1986 wieder einmal verboten – auf Lebenszeit, wie es dieses Mal so schön hieß – warum sollte es in Thüringen auch anders sein. Dort gingen die Uhren zwar etwas langsamer, aber es war auch dort nur eine Frage der Zeit, bis auch Michaels Band verboten wurde, er die Schnauze voll hatte und nach Berlin zog.
Seine neue Band nannte er Einschlag und ehe die Berliner Behörden hier oben mitbekommen sollten, warum ein in Thüringen verbotener Musiker mit einer neuen Band plötzlich unter einem anderem Namen wieder spielen durfte, nur weil er jetzt polizeilich in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik gemeldet war, verging eine ganze Weile. Die Behördenmühlen mahlten auch damals schon recht langsam und auch wir als bereits verbotene Berliner Band nutzten das aus: Wir spielten in der Zwischenzeit unter den merkwürdigsten Namen in Brandenburg, Sachsen und eben in Thüringen und setzten mit einer Tour entlang der Erdgastrasse in der damaligen Sowjetunion im Dezember 1986 – unter dem hanebüchenen Pseudonym „O.K.-Band“ dem Ganzen noch die Krone auf. Einschlag war unterdessen so etwas wie die ständige Freygang-Vertretung in der DDR geworden, worüber wir nicht ganz unglücklich waren. Einer musste ja den Stab übernehmen, denn nach unserer Rückkehr in die DDR wurden wir von den Behörden schon voller Freude erwartet. Solch ein Fauxpas sollte denen nicht noch einmal unterlaufen.
Den Bass bei Einschlag spielte mittlerweile Mircea Ionescu, ein Freund und Bassschüler von mir. Eines Nachmittags klingelte es und er stand mit einer Plastiktüte unter dem Arm vor meiner Tür und sagte: „Kay, wir spielen übermorgen mit Einschlag in Forst – aber ich habe echt keine Zeit! Kannst du mal kurz für mich einspringen? Ich hab auch ein paar Kassetten mit Proberaumaufnahmen dabei!“ Sie klangen grässlich und nach kurzem Reinhören war klar, dass ich das Einschlag-Programm nicht sonderlich üben musste, zudem sowieso keine Probe mit der gesamten Band angesetzt war: Das Repertoire von Einschlag war, wie damals schon bei No.13, im Großen und Ganzen immer noch mit dem von Freygang identisch – bis auf ein paar Ausnahmen, zu denen man ja zur Not etwas aus dem Hut improvisieren konnte. Und so traf ich Michael am 15.4.1988 in der Gaststätte Eulo in Forst, kurz vor der polnischen Grenze, auf der Bühne wieder. Zum ersten Mal nach langer Zeit und dann auch gleich wieder zu einem gemeinsamen Konzert.
Im Juli 1989 spielten wir wieder halbwegs offiziell mit Freygang. Zumindest hinderte uns keiner mehr daran, unsere Plakate aufzuhängen und Konzerte zu buchen. Die Züge waren inzwischen voll mit Ausreisewilligen in Richtung ČSSR und Ungarn, wo die Botschaften besetzt wurden oder man mit Kind und Kegel versuchte, sich durch die Maisfelder in Richtung Österreich zu schleichen. Die Polizei und die Stasi hatten scheinbar ganz andere Sorgen, als sich um eine Rockband zu kümmern. So gingen wir dann auch unbehelligt auf Sommertour quer durch die gesamte Rest-DDR, zusammen mit der Hof Blues Band und den Skeptikern – es wurde ein trauriger Abschied von einem inzwischen völlig hilflosen Land. Die DDR war wie ein fetter Maikäfer, der plötzlich auf dem Rücken lag und nicht mehr von selbst auf die Beine kam. Wir waren nicht sonderlich traurig darüber, weil große Veränderungen in der Luft lagen. Aber wir mussten leider auch viele gute Freunde verabschieden, unter ihnen auch viele gute Musiker, was das Hierbleiben natürlich nicht gerade einfacher machte.
Aber es blieben auch einige und hofften darauf, dass sich hier vielleicht doch noch etwas zum Positiven verändern würde. So unter anderem auch Micha. Er gründete unterdessen in Berlin eine neue Band mit dem Namen Noah, an der Gitarre bereits mit Thomas Mund, dem späteren In Extremo-Gitarristen. Auch Freygang blieben von Veränderungen natürlich nicht verschont, denn nachdem uns unser Gitarrist Gerry plötzlich Hals über Kopf in Richtung Ungarn abhandengekommen war, stieß Kurt von Tausend Tonnen Obst zu uns und brachte gleichzeitig seinen ehemaligen Schlagzeuger mit: Ab November 1989 saß dann Reiner Morgenroth hinter den Freygang-Drums.
Kurz nach dem Fall der Mauer war dann plötzlich wieder alles möglich und die Karten wurden neu verteilt. Während die großen alten Ostbands nach der Wende praktisch vor dem Nichts standen, da ihr künstlicher Markt mit großem Krach in sich zusammengebrochen war, hatten Bands wie Noah und Freygang alle Hände voll zu tun: Unser Radius hatte sich mit einem Schlag vergrößert, man konnte Platten rausbringen so viel man wollte, man konnte einfach ein Haus besetzten, wenn man einen Proberaum brauchte und konnte singen und spielen was immer man wollte. Man brauchte sich nicht mehr vor irgendwelchen Kommissionen zu rechtfertigen oder gar Angst davor zu haben, wieder einmal von der Polizei direkt von der Bühne aus abgeführt zu werden. Die Untergrundszene des untergegangenen Ländchens kroch aus ihren Verstecken und aalte sich plötzlich in der Sonne. Bands gründeten sich und verschwanden auch wieder in Sekundenschnelle, man nannte sich plötzlich auch nicht mehr Band sondern „Projekt“, kleine Label und Veranstaltungsorte schossen wie Pilze aus dem Boden, ebenso neue Musikzeitschriften wie das „NMI“ und die „Messitsch“.
1990, direkt in der Nacht der Währungsunion, nahmen Freygang mit zwei befreundeten Bands, der Firma und der Ich-Funktion, eine Live-Platte auf, die schon wenige Tage später unter dem Titel „Die letzten Tage von Pompeji“ erschien. Auch Noah gingen ins Studio und produzierten die LP „Hilf deiner Polizei – schlag dich selbst“ sowie die Single „Desert Storm“. Die neue Besetzung hatte Michael mehr als gut getan und Noah waren kein Vergleich mehr zu seinen beiden alten Bands No.13 und Einschlag, die ja auch eher durch das Nichtbeherrschen ihrer Instrumente auffielen als durch ihre Musik.
1990 gingen beide Bands, Noah und Freygang, des Öfteren zusammen auf Tournee und es war abzusehen, dass Noah uns mehr und mehr das Wasser abgruben. Während man Michaels Band die Spielfreude auf der Bühne förmlich ansehen konnte, kamen Freygang immer arroganter rüber. Mit unserem alten Gitarristen hatten wir irgendwie auch unser Herz verloren und wir drehten uns musikalisch zunehmend im Kreis. Es machte einfach keinen Spaß mehr! Vielleicht waren wir auch einfach schon zu lange zusammen, vielleicht war auch die Besetzung nicht mehr die richtige, vielleicht war der Wechsel der Stilrichtung zu radikal, vielleicht war uns auch mit der DDR unser gemeinsamer Feind abhandengekommen – die Luft war irgendwie raus und es musste dringend etwas passieren.
Irgendwann im Frühjahr 1991 quälten wir uns wieder einmal durch eine öde Probe im Eimer, einem ursprünglich von mehreren Bands besetzten Haus. Aber auch hier hatten die Leute inzwischen gemerkt, dass mit kommerzielleren Tekkno-Veranstaltungen und vor allem mit dem Getränkeverkauf eine ganze Menge mehr Geld zu verdienen war als mit einer alternativen Subkultur. Wieder einmal blieb keine einzige Mark bei den Bands hängen, wieder einmal mehr blieben die eigentlichen Initiatoren des Ganzen im Regen stehen. Die Geschichte lief uns mehr und mehr aus dem Ruder. Wir probten in letzter Zeit auch immer häufiger ohne unseren Sänger, da der irgendwie nur noch mit sich selbst zu tun hatte. Irgendwann im Laufe einer dieser Proben ging ich dann eine Etage tiefer, wo sich der Tresen des Eimers befand, um ihn zum Singen zu animieren. „Ich weiß doch wie ihr spielt!“, war seine einzige Antwort. Das war eindeutig und somit auch die letzte Probe von Reiner und mir mit Freygang.
Am 26.4.1991 standen wir dann das erste Mal als Noah auf der Bühne: Michael, Thomas, Reiner und ich – und ausgerechnet wieder in Forst, wo ich damals schon mit Einschlag das Vergnügen hatte.
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