Schuld war nur der Mirabellenwein – von Wolf-Rüdiger Mühlmann
3.Kapitel: 1998 – Das Chaosjahr
Als mich Kay Lutter vor einigen Monaten bat, auch einige Zeilen für dieses Buch zu verfassen, war mein erster Gedanke: Wozu eigentlich eine Schwarte über eine Band, die noch nicht einmal zehn Jahre lang existiert, aus deren Reihen kein Superstar der Marke Robbie Williams, kein gestörter Freak wie Marilyn Manson, kein koksverseuchter Tattergreis wie Ozzy Osbourne, kein waffengeiler Redneck wie Ted Nugent oder kein intellektueller Hobbypolitiker wie Tom Morello entsprungen ist? In Extremo – das sind alles nette Kerle, die ihre Bücherregale und Dudelsäcke selber bauen, prima Kumpels von nebenan, Typen, mit denen man gern zusammen ein Bier trinkt. Aber reicht das bereits für ein Buch aus?
Eigentlich nicht. Aber dann erinnerte ich mich an die Anfangszeit, die (um es mal international zu sagen) „early days“ dieser Gruppe. Ich erinnerte mich daran, wie diese Band – in bunten Lumpen verpackt, mit bimmelnden Glöckchen an ihren unverschämt spitzen Lederstiefeln (Marke Eigenbau), mit allerlei quäkenden Blasinstrumenten und vorlautem Mundwerk – auf Mittelaltermärkten das machten, was einige andere Kapellen nicht minder unterhaltsam praktizierten: alte Weisen spielen, pathetisch und sympathisch den stetig auf Achse seienden Barden heraushängen lassen, mit lyrischer Finesse Weiber anmachen und mit großer Fresse Kerle in ihre Schranken weisen. Inmitten dieser schönen Scheinwelt, dieser Fata Morgana der Flickenzelte und Fellvorhänge, der Patschuli-Öle, Brombeerweine in bauchigen Flaschen, der selbstgebastelten Jesuslatschen, der angetrunkenen Metverkäufer, der dicken Fleischbraterinnen und der augenzwinkernden „Das kostet zwei Taler und einen halben“-Sprachverquerer brachten es In Extremo zu lokaler, oder besser: zu mittelalterlicher Szenengröße. Wobei – und das muss man ehrlich sagen – die Kollegen (oder besser: die Konkurrenz) von Corvus Corax im Bereich der puren mittelalterlichen Akustikmusik damals etwas bekannter und vermutlich auch erfolgreicher waren. Das war Mitte der neunziger Jahre. Heute, sieben oder acht Jahre später, ticken die mittelalterlichen Uhren anders: Man kennt In Extremo in ganz Europa. Die siebenköpfige Band verkauft nicht Märkte, sondern große Hallen in Mexiko aus, die Gruppe ist ein Top Ten-Act in Deutschland. Mittelalterrock hat sich zu einem ernst zu nehmenden Musikstil entwickelt, den die großen Trendmagazine nicht mehr ignorieren können. Immer mehr Kids wollen lieber Dudelsack und nicht Klavier spielen lernen, große Metalfestivals sind ohne Vertreter aus dem folkloristischen Bereich nicht mehr denkbar.
Eines schönen Tages, es war Ende 1997, steckte mir Verlegerin, Promoterin und Party-Animal in Personalunion – Silke Yli-Sirniö – eine Demo-CD von In Extremo zu. „Wolf, du stehst doch auf Folk und Flöten und so! Hör mal hier rein! Das ist die heißeste Newcomer-Band Deutschlands!“, krähte Silke zwischen dem fünften und sechsten Pils, das wir uns in einer Schenke genehmigten. Mal unabhängig davon, dass jede Verlagsband jedes Verlegers unglaublich heiß sein soll (selbst mittelalterliche Rohrkrepierer wie Finisterra werden heutzutage als glühend angepriesen, obwohl ihre Niveautemperatur selbst den sibirischen Winter unterbietet): Ich war verdammt neugierig.
Fünf Stücke befanden sich auf der CD, deren Frontcover die Armtätowierung des Sänger Michael (alias Das Letzte Einhorn) zierte: „Der Galgen“, „Como Poden“, „Mariae Wuergen – Quem A Amagem Da Virgin“, „Rotes Haar“ sowie „Ai Vis Lo Lop“. Letzterer Song war mir bereits als Akustik/ Folkversion bekannt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass es eines der berühmtesten Mittealterstücke überhaupt ist, quasi das „Smoke On The Water“ der Ritterzunft, das „Highway To Hell“ der Vagabunden. Aber was ich diesmal hörte, ließ mich wohlig schauern. Noch nie zuvor hatte ich diese Nummer als rasantes, als Moshpit-taugliches Rockinferno gehört! Kurz: eine Offenbarung! Ich wusste sofort, dass dies ein wichtiger Moment in meinem Leben als Musikjournalist ist. Es war mir von Beginn an klar, dass diese Band tatsächlich das nächste große Ding sein wird. Das, was ich hörte, war aufregend. Irgendwie neu. Und das, obwohl ich mit Hilfe von Subway To Sally, The Inchtabokatables, durch Skyclad, durch diverse irische und englische Folkrocker, durch pure Mittelaltermusik wie Corvus Corax oder Cradem Aventiure (bei denen spielte übrigens In Extremo’s Dr. Pymonte) und durch etliche Mittelaltermärkte, auf denen ich mich regelmäßig seit Anfang der Neunziger als zahlender Gast herumtrieb, mit der Materie halbwegs vertraut war.
Mir war bis zu dieser Demo-CD bewusst, dass in der „Szene“, in der Schnittmenge zwischen Folk und Rock (oder meinetwegen Metal), etwas fehlte: eine waschechte, hautnahe Verbindung aus mittelalterlicher Originalität mit Dudelsäcken, Pfeifen, Flöten, Schellen, Schalmeien und überliefertem Textgut sowie Rockmusik. Wichtig bei dieser Verbindung musste ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen alt und neu sein. Sprich: Bis zu dieser CD fehlte der Szene eine Band, die so wirkt, als sei sie mit einer Zeitmaschine von irgendeinem Burghof-Gig im 14. Jahrhundert in das Hier und Jetzt transportiert worden, mit einer Mission: abzurocken!
Jetzt also, es war Ende 1997, wurde diese Lücke Dank In Extremo geschlossen. Kurz darauf, im Frühjahr 1998 spielte das Septett auf dem Hamburger Rathausmarkt. Und auch Verlegerin Silke kam in die Hansestadt, um sich das Konzert der Rasselbande anzuschauen. Besser gesagt: zwei Konzerte. Denn am Nachmittag, im Rahmen des Mittelaltermarktes, bot die Gruppe eine Mittelalter-Akustik-Show inklusive aller überlieferter Standards („Palästinalied“, „Traubentritt“, „Totus Floreo“, „Saltarello“, „Veris Dulcis“ – also das Who-Is-Who? der Ritterhitparade). An dieses Konzert kann ich mich nur bruchstückartig erinnern, denn: Es war an jenem Samstagnachmittag bitterkalt. Deshalb beschäftigten sich Silke und ich in erster Linie mit einem Stand, an dem heißer Mirabellenwein ausgeschenkt wurde. „Ein Krug von diesem edlen Weine macht euch 3 Taler ärmer, edler Herr.“, ließ der Verkäufer aller 15 Minuten die gleiche Schallplatte laufen. Etwa 30 Taler später stellte mir Silke die Band vor, oder besser: Sie stellte mir Michael vor, denn schon damals zog vor allem der Sänger alle Aufmerksamkeiten auf sich. Entertainer, Possenreißer und freche Labertasche in einem, das ist Michael, das letzte Einhorn… Zuerst mal führte sich der Frontvagabund auf, als sei er Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. „Soll ich euch mal alle Rathausräume zeigen?“, haute der Berliner auf den Putz. (Den auf dem Mittelaltermarkt beschäftigten Musikern, Standbetreibern und sonstigen Mitarbeitern standen einige Räume im Rathaus zur Verfügung, was die Herren von In Extremo nicht daran hinderte, das ganze Gebäude zu erkunden und unsicher zu machen.) Also stromerten wir angetrunken durchs Rathaus, während dessen uns Michael einen Schwank aus seiner Jugendzeit nach dem anderem erzählte. Dabei erfuhr ich, dass ich den Burschen schon früher, zu DDR-Zeiten begegnet war. Michael war einst Sänger der Ostrocker Noah. Und die gastierten regelmäßig in meiner Heimat, der erzgebirgischen Stadt Aue.
Wie auch immer: Abends bliesen In Extremo zur Rockshow auf dem Rathausplatz. Es war eines der fünf oder sechs Konzerte in meinem Leben, die ich als unvergesslich bezeichnen würde. Nur so viel: Wenn man das erste Mal in seinem Leben die Ohren von drei Dudelsäcken und einer elektrischen Gitarre abgeschraubt bekommt und dazu noch eine raubeinige, authentische Bühnenshow erleben darf, fühlt man sich wie im Garten Eden. Ob nun mit oder ohne einer Überdosis Mirabellenwein…
Wenige Jahre später, In Extremo konnten von ihrem 1998 erschienenen, offiziellen Debütalbum „Weckt die Toten“ satte 35.000 Exemplare absetzen, waren Mittelaltermärkte für die Band bzw. für ihren riesigen Anhang zu klein. Was jetzt folgte, war der Beweis dafür, dass sich diese einzigartige musikalische Mischung bei den Rock- und Metalfans durchgesetzt hat. In Extremo räumten beim Wacken Open Air und ein Jahr später beim Dynamo Open Air eindrucksvoll ab. Heute klingt dies wie selbstverständlich. Damals jedoch war der steile Karriereanstieg wie ein Wunder.
(Wolf-Rüdiger Mühlmann, schreibt für das Rock Hard – und, wenn überhaupt, „In Extremo-Entdecker“)
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