Mühlmanns Technophase
Somewhere Over The Rainbow – Marusha (Raveland/1994)
Ich kann es kurz machen: Mühlmanns Technophase begann vollkommen überraschend im Spätherbst 1993 und endete ebenso plötzlich und unerwartet schon im darauffolgenden Sommer, nach einem kurzen Blick auf seine Kontoauszüge. Mühlmann war verstimmt und übellaunig und in dieser Stimmung sah ich ihn auch das letzte Mal. Es war ein kurzer Sommer der Liebe und auch die Liebe selbst schien sehr einseitig, zumindest was ihn betraf. Hier gab kein Geben und Nehmen, Mühlmann reichte es anscheinend bloß zu geben. Es klingt zwar hochnäsig, aber ich musste ihm nicht mal beweisen, dass Techno nicht das Geringste mit Musik zu tun hatte. Er kam irgendwie von selbst darauf.
Mühlmann arbeitete in unserem kleinen Büro direkt neben mir, genauer gesagt saßen nur Mühlmann und ich in diesem Büro. Es war eigentlich ganz angenehm mit ihm, denn wir verstanden uns ganz gut: Wir stritten uns nicht über die Radiosender oder die Art der Kaffeezubereitung und wir besaßen auch keine Topfpflanzen, die regelmäßig gegossen werden mussten. Wir hatten überhaupt keine Topfpflanzen, nur einen Computer, zwei Schreibtische und einen Aschenbecher, den selbst die werdenden Nichtraucher aus den Nachbarbüros auffallend oft benutzten. Kaffee tranken wir selbstredend schwarz. Seit bei uns im Büro geraucht werden durfte, bekamen wir regelmäßig Besuch, wenn auch oft unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Kurz: Wir hatten unseren Spaß, wir konnten unsere Zeit frei einteilen, wir konnten kostenlos mit Gott und der Welt telefonieren und der Job wurde obendrein sogar noch relativ gut bezahlt. Tot machte sich hier niemand und bei einer zeitlich begrenzten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme schon gar nicht.
Ich weiß ich bis heute nicht, was Mühlmann eines Tages dazu trieb, mich missionieren zu müssen. Ähnlich wie die Katholische Kirche im Mittelalter oder die Zeugen Jehovas, die mit ihrem Wachturm immer am Eingang zur U-Bahn am Herrmannplatz standen, begann er mich eines Tages zu nerven:
„Alter, warum hörste denn immer noch dieset janze alte Zeug?“
Ich verstand die Frage nicht gleich, denn unsere Plattensammlungen waren nahezu identisch. Wir kopierten uns die Neuerwerbungen aus unseren Sammlungen bis vor wenigen Tagen sogar noch gegenseitig, kauften nichts doppelt, dafür umso mehr. Selbst beim CD-Verleih, Gott hab ihn selig, sprachen wir uns ab.
„Watt denn für altes Zeug? Ditt sind die Stone Temple Pilots! Die CD kam erst vor vierzehn Tagen raus!“
Ich merkte, dass Mühlmann von der Musik genervt war und stoppte mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck den CD-Player. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm los war, aber seit er vier Wochen zuvor die Wohngemeinschaft gewechselt hatte, benahm er sich irgendwie komisch.
„Alice in Chains! Soundgarden! Stone Temple Pilots! Nirvana! Ick kann diese alte Gitarrenscheiße echt nicht mehr hören! Männer mit Holzfällerhemden in zerrissenen Jeans! Inna Rockmusik passiert seit über dreißig Jahren immer ditt selbe und dich stört ditt noch nicht mal! Im Gegenteil: Du koofst den Mist sogar noch! Mann, Alter! Musik hatte früher mal was mit Revolution zu tun!“
Mühlmann versuchte plötzlich eine Marusha-CD in die Lade zu stecken, was ich in letzter Sekunde verhindern konnte. Mich nervte dieser Mist schon im Auto, so dass ich seit kurzem sogar das Autoradio ignorierte. Und nun das! Nur über meine Leiche!
Wahrscheinlich hatte Mühlmanns Freundin gerade mit ihm Schluss gemacht, das kam öfters vor, oder er musste seine Wohnung jetzt zusammen mit einem Haufen koksender DJs teilen, die gerade unpässlich waren, ihren Mietanteil zu zahlen Ich beschloss nicht weiter darauf einzugehen, denn den Ansteckungsgrad seiner Krankheit hielt ich, zumindest hier im Büro, für überschaubar. Ich war immun gegen jede Art von elektronischer Musik und ließ maximal eine Hammondorgel als Instrument in einer Band gelten. Wir einigten uns, was den CD-Player betraf, auf einen befristeten Waffenstillstand.
Ich muss zugeben, dass mich Mühlmanns plötzliche Metamorphose etwas irritierte. Vielleicht war ich ja inzwischen wirklich schon so konservativ geworden, was meinen Musikgeschmack betraf, aber Anfang der Neunziger trugen richtige Musiker noch lange Haare und hatten Gitarren in den Händen. Mit den verblödeten Tekkno-Nerds wollte man eigentlich nichts zu tun haben. Die hielten zwar immer bis zum nächsten Morgen durch, aber dazu mussten sie sich auch eine ganze Menge bunt gefärbter Pillen in den Rachen werfen, von denen die wenigsten Probanden wussten, wozu die eigentlich gut waren. Mühlmann hatte auch nicht den geringsten Schimmer davon und er sah die letzten Wochen vor seiner endgültigen Verwandlung zum Techno-Jünger echt beschissen aus.
„Alter, ditt war unglaublich. Wir waren bis früh um 7 Uhr im Werk „Ostgut“ und sind von da aus noch ins „E-Werk“!“
Genau so sah Mühlmann aus, denn bis zu diesem ersten zusammenhängenden Satz benötigte er drei große Tassen Kaffee und eine halbe Packung Tabak. Meine Neuentdeckungen, die ich am Wochenende im Trash gehört hatte, interessierten ihn nicht die Bohne. Mühlmann war jetzt ein völlig neuer Mensch, hatte neue Freunde und kleidete sich auch dementsprechend. Ich würde mich irgendwie noch daran gewöhnen müssen, meinte er. Doch dass das alles von heute auf morgen geschah, ließ mich ernsthaft an seinem Verstand zweifeln.
„Da musste unbedingt mal mit! Du kannst doch nich immer nur deine Grunge-Scheiße hören! Mann, die Welt bewegt sich doch weiter! Du kriegst ja überhaupt nix mehr mit! Hey, wir wohnen mitten in Berlin!“
Es fehlte nur noch, dass er jetzt vom Zentrum der Bewegung zu faseln begann. Vielleicht fühlte er sich ja wohl in seiner neuen Rolle und mir würde etwas frischer Wind wirklich mal ganz gut tun. Doch ich wollte nicht so rumrennen wie er, zumal sein neues Piercing seit Tagen eiterte und seine linke Augenbraue als dicke Wurst hervorstehen ließ. Prinzipiell gefiel mir der Gedanke aber ganz gut, bei lauter Musik in dunklen Gemäuern Alkohol zu trinken. Wenn bloß die Musik nicht gewesen wäre! Das war eher etwas für Degenerierte, die sich immer nur die erste Zeile eines Songs merken konnten und das alles in einer Endlosschleife brauchten. Was soll auch Großartiges dabei herauskommen, wenn ehemalige Schuhverkäuferinnen Musik machen? Und dreißigjährige Zahnarzthelferinnen aus der Vorstadt, die sich Ringelzöpfe flochten und beim Tanzen ständig einen Schnuller im Mund hatten, fand ich auch nicht umwerfend attraktiv.
Somewhere Over The Rainbow
Way Up High
There’s A Land That I Heard Of
Once In A Lullaby
Wenig später kaufte sich Mühlmann einen Plattenspieler. Nein, keinen einfachen Plattenspieler, sondern er kaufte sich Turntables. Das Revolutionäre an dieser Musik wäre ja, erklärte er mir überschwänglich, dass jeder sie nun selbst machen könne. Jeder wäre nun selbst ein Popstar und könne aus bereits vorhandenen Songs und Samples etwas ganz Eigenes kreieren. Was ich vorwurfsvoll und spießig Diebstahl nannte, sei in Wahrheit eine völlig neue Schöpfung aus veraltetem Material, welches seine Daseinsberechtigung bereits verloren hatte. Die Musik würde nun wirklich revolutioniert und verlöre ihren elitären Charakter. Bald müsse man nicht mehr umständlich ein Instrument erlernen, bald könne jeder ein Künstler sein.
Mühlmann begann mir mit seinem Gequatsche echt auf die Nerven zu gehen. Es fehlte nicht viel und ich hätte über den Tisch gelangt, was ihn in seiner schwachsinnigen Argumentation aber wohl eher noch bestärkt hätte. Ich ließ meine Faust unter dem Tisch und versuchte an etwas Schönes zu denken. Doch leider hielt sich Mühlmann bereits jetzt schon für einen Künstler, derselbe Mühlmann, dessen Gitarre im Koffer unter seinem Bett schon seit Jahren von einer dicken Staubschicht überzogen ist. Mühlmann hatte es immer schon geärgert, dass ich ein Instrument spielen konnte und er nicht. Jetzt würde er es mir beweisen und mich links überholen.
Es wurde mit der Zeit ungemütlich im Büro und wir begannen uns gegenseitig zu ignorieren. Betrat ich das Büro zuletzt, machte ich als erstes Marushas debilen Kinderreimen ein Ende, kam Mühlmann etwas später, war seine erste Amtshandlung, den Smashing Pumpkins den Garaus zu machen. Plötzlich war es totenstill, nur das Klicken der Feuerzeuge zeugte noch von Leben in diesem Raum. Es machte keinen Spaß mehr. Mühlmann versuchte mich schon lange nicht mehr von seiner Musik zu überzeugen, auch wagte er es schon lange nicht mehr, mir seine neuesten Kompositionen vorzuspielen, nachdem ich sie als Amateurkacke bezeichnet hatte. Zu Freunden sollte man eigentlich nett sein, aber ob Mühlmann noch zu meinen Freunden gehörte, wagte ich zu bezweifeln.
Mühlmann kam jetzt montags erst gegen Mittag zur Arbeit. Er sah furchtbar aus, blass und mit riesigen Augenringen. Er hatte sich die Haare mit einer Maschine frisiert und sein zweites Augenbrauenpiercing überragte das erste um sogar noch um ein paar Millimeter. Kein Wunder, dass Mühlmann bei den Frauen nicht mehr erste Wahl war.
Mehrere dröge Bürowochen vergingen mit gegenseitiger Ignoranz. Mittlerweile war es Frühling geworden, die Bäume bekamen wieder Blätter, die Menschen gute Laune und ein Wunder geschah: Mühlmann richtete das Wort an mich.
„Ick mache zur Love Parade eine große Veranstaltung im „Sounds“. 1500 Leute und der absolute Kult- DJ aus Bochum. Willste mit einsteigen?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. Mühlmann hatte mich soeben gefragt, ob ich bei einer Techno-Veranstaltung mit einsteigen würde. Mein Zögern inspirierte ihn zu weiteren Sätzen. „Boozoo aus Bochum legt uff, den kriege ick für 15.000 Mark, und icke lege im Vorprogramm auf. Ditt wird krachend voll, vasprochn! Der Typ ist total angesagt und ist alleene schon für 3000 Leute jut.“ Ich ahnte dass Mühlmann mich gleich nach Geld fragen würde, aber ich stellte mich doof.
„Watt soll ich denn da machen? Karten abreißen?“
Ich hatte schon jetzt keine Lust darauf, mir mein Wochenende mit Dumpfbackenmusik zu versauen, schon gar nicht im Sommer. Als Gitarrenfreund mied man die Hauptstadt am Love Parade – Wochenende ohnehin. Wenn die Brandenburger Bauern mit gefärbten Haaren wie die Hunnen in die Hauptstadt einfielen, fuhr man als Hauptstädter eben nach Brandenburg.
„Ick brauche jemanden der finanziell mit einsteigt. Ick muss die 15.000 Ommjen in zwee Wochen übaweisen, sonst kommt der nich. Aber die Kohle kommt dreimal wieder rinn und wir teilen uns dann den Gewinn!“
Ich schüttelte nur wortlos den Kopf, packte meine Sachen und ging nach Hause. Da sprach jemand zehn Wochen nicht ein einziges Wort und im ersten Satz ging es gleich um Geld. Der hatte doch nicht alle Latten am Zaun. Ohne mich.
In den nächsten Wochen lief das Büro für Mühlmanns Nebentätigkeit als Veranstalter auf Hochtouren. Der Briefkasten war voller Demos, Plakatentwürfe verstopften als riesige Datenmengen den Posteingang und Getränke- und Securityfirmen warben um die Gunst der scheinbar neuen Größe auf dem Technosektor. Ich hielt vor unserem Chef dicht und ließ ihn gewähren, wenn er dafür in den nächsten Wochen meinen Stundenzettel mit ausfüllen würde und ich nur noch ein paar Stunden in der Woche arbeiten bräuchte. Schließlich hatte ich auch noch was anderes zu tun. Mühlmann willigte ein, was blieb ihm übrig?
Das Büro war von nun an vollgepackt mit Plakaten, die nach frischer Druckfarbe stanken, auf meinem Platz stapelten sich Flyer und im Mülleimer die Demos diverser junger Talente. Ich minimierte mein Kommen auf das Notwendigste und ging ihm aus dem Weg. Ich wollte mit diesem ganzen Mist einfach nichts zu tun haben. Hoffentlich war der Spuk bald vorbei. Ich wünschte Mühlmann viel Glück.
Wochen später fiel die Provinz auf dem Kudamm ein, zuckte apathisch im Rhythmus der Bassboxen und bespritzte sich unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ mit Wasserpistolen. Ich saß derweil in einem Brandenburger Kaff am See und dachte zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder an Mühlmann. Ich würde ihm seinen neuen Reichtum gönnen, Hauptsache meine Stundenzettel wären okay.
Nein, solche Geschichten haben nie ein Happy End. Ich traf Mühlmann eine Woche nach der Liebesparade auf dem Hof unseres Büros, als er gerade dabei war, riesige A1-Plakate in der Recyclingtonne zu versenken. Er war blass wie immer und auch seine Piercings schauten wie zwei angeschraubte Fremdkörper in verschiedene Richtungen.
„Wird Zeit das de nach Hawaii kommst, wa, Alter?, begrüßte ich ihn, „Immer im Keller rumhängen ist auf Dauer ja ooch nich so jesund!“. Ich versuchte zu scherzen, biss bei ihm aber auf Granit. Ich folgte ihm bis in unser Büro, was aussah wie vorher, nur dass sein Platz komplett leer war.
„Dieser Ruhrpott-Wichser wollte die ganze Kohle im Voraus“, wedelte Mühlmann plötzlich mit seinem Kontoauszug. „So is ditt eben: Wenn man mal watt würklich Jutet für die Alljemeinheit tun will, wird man anschließend ooch noch anjeschissen!“
Mit diesen Worten drängelte sich mein ehemaliger Freund an mir vorbei, ohne sich noch einmal umzusehen. Ob seine DJ-Karriere noch erfolgreich wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.
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