Interview von Wolf-Rüdiger Mühlmann (Rock Hard) mit Yellow Pfeiffer
8.Kapitel: 2003 – Küss mich
Das neue Album der Mittelalterrocker IN EXTREMO ist schlicht betitelt: Mit „7“ mischen die Vagabunden aus der Vergangenheit die Moderne auf. Yellow Pfeiffer, im normalen Leben heißt er Boris, spricht über Popularität und die dafür nötige harte Arbeit, die seltene Gabe der stetigen Dankbarkeit und den ausgeprägten Hang der Band zum weiblichen Geschlecht.
RH: „Rotes Haar“, „Weiberfell“, „Erdbeermund“ – auf jeder eurer Platten gibt es Songs über Frauen, über Liebe und Lust. Wie viel Prozent von IN EXTREMO ist Sex?
Y.P.: „Oh, eine ganze Menge. Die genaue Prozentzahl kann man natürlich nicht ermitteln, aber Sex ist bei uns ein ganz wichtiges Thema.“
RH: Woran denkt ihr, wenn ihr diese Lieder schreibt und spielt? An eure Frauen und Freundinnen?
Y.P.: „Hahaha! Natürlich! Es gibt ja statistische Ermittlungen, wie oft ein Mann täglich an Sex denkt. Ich denke mal, dass bei uns die Quote sehr hoch ist.“
RH: Ihr habt jetzt sieben Alben herausgebracht, inklusive aller puren Mittelalter-Scheiben. Gibt es noch Dinge, die immer noch genauso aufregend und spannend sind wie am ersten Tag?
Y.P.: „Ich bin noch immer vor jedem Auftritt aufgeregt, vor allem, wenn wir neue Lieder im Programm haben. Bei den neuen Stücken beobachte ich das Publikum, wie es die Songs aufnimmt. Natürlich gehen wir mit unserem Lampenfieber souveräner um als in den Anfangstagen.“
RH: In Deutschland spielt ihr fast nur in vollen Häusern. Ist das für euch Routine geworden?
Y.P.: „Nein, ich bin jedes Mal aufs Neue dankbar. Ich bin froh, dass wir bislang noch nie in zu großen Hallen gespielt haben. Einerseits ist es fürs Publikum blöd, denn ein ausverkauftes Konzert bringt automatisch eine bessere Stimmung mit sich. Andererseits möchten wir nicht in die Situation kommen, dass wir uns und unsere Position gnadenlos überschätzen. Wir haben mal in den USA in einem Club gespielt, der nur zur Hälfte gefüllt war. Aus dieser Not machten wir drei Dudelsack-Spieler eine Tugend und sprangen von der Bühne, um im Publikum zu spielen und gemeinsam mit den Leuten herumzutoben. Da darf man nicht zimperlich sein.“
RH: Gibt es überhaupt Routine?
Y.P.: „Der gesamte Tourablauf mit all den Vorbereitungen. Wir benötigen viel weniger Zeit, die Dudelsäcke zu stimmen, als früher. Alles passt und steht an seinem richtigen Fleck.“
RH: Eure Kompositionen werden von Album zu Album immer dichter. Sind die neueren Stücke automatisch schwerer zu spielen als die Nummern von „Weckt die Toten“?
Y.P.: „Nein, denn wir sind im Laufe der Jahre bessere Musiker geworden. Dennoch gibt es Unterschiede. „Ai Vis Lo Lop“ kann ich auch mit 40 Grad Fieber im Liegen spielen. „Merseburger Zaubersprüche II“ verlangt hingegen hohe Konzentration durch das Miteinander von Harfe und Nyckelharpa. Bei dieser Nummer steht und fällt alles mit dem Monitorsound.“
RH: Bei aller Popularität, die ihr Jahr für Jahr gewonnen habt: Werdet ihr auch mit Stimmen konfrontiert, die euch klipp und klar sagen, dass euer Stromgitarren-Debüt „Weckt die Toten“ eure angeblich beste Platte war?
Y.P.: „ Na klar! Ich mache mir immer die Mühe und beantworte E-Mails von Fans. Außerdem checke ich regelmäßig das Gästebuch auf unserer Homepage. Als es losging mit Viva und Videoclips, gab es ganz viele Kritiker und solche, die nur gemeckert haben. Allerdings handelt es sich bei einem Großteil der Kritiker immer um dieselben Leute, die sich inhaltlich ständig wiederholen. Mittlerweile hat sich die Situation wieder beruhigt.“
RH: Lasst ihr euch von negativen Gästebuch-Eintragen beeindrucken?
Y.P.: „Nicht wirklich. Aber wenn man zu dem Zeitpunkt, in dem die erste Single auf Viva läuft, mehrere negative Einträge liest, fühlt man sich auf jeden Fall betroffen. Allerdings wusste ich ja im Gegensatz zu den Fans, wie das gesamte Album klingt. Die Fans haben ja Angst, dass jedes Stück auf „7“ so kommerziell wie „Küss mich“ klingt. Ich habe auf Fan-Mails mehrmals geantwortet mit: „Leute, beruhigt euch und macht euch keine Sorgen. Wir werden keine Popgruppe.“
RH: Geht es in „Küss mich“ um nicht erwiderte Liebe oder um ein unerwidertes Sexverlangen?
Y.P.: „Ich weiß nicht, wie das unser Sänger Michael sieht, aber ich deute diesen Song als eine Beschreibung des Unerreichbaren. Es gibt jemanden, an den man einfach nicht herankommt. Das bezieht Sex natürlich mit ein.“
RH: Wie bewertest du jetzt die Qualität eures Vorgängeralbums „Sünder ohne Zügel“?
Y.P.: „ Ich mag die Platte noch immer, finde aber, dass „7“ unsere beste Scheibe ist. Allerdings habe ich zu „7“ keinen Abstand. „Sünder ohne Zügel“ war im Nachhinein etwas zu viel Kopf und zu wenig Bauch.“
RH: „Weckt die Toten“ war für die Szene wie ein Erdrutsch und verdient in der musikalischen Verbindung „Mittelalter/Folk meets Metal“ die Bezeichnung Klassiker. Würdest du noch andere Scheiben dieses Genres als Klassiker bezeichnen?
Y.P.: „Mir fällt keine Scheibe ein. Es gibt einige pure Mittelalterbands, die ich sehr mag, und einige Folk-orientierte Bands. (…) Andererseits gibt es Bands, die musikalisch absolut unmöglich sind und diese Musik offenbar nur machen, weil sie zurzeit recht gut verkauft.“
RH: Eines der besten Stücke von IN EXTREMO überhaupt ist „Spielmannsfluch“ vom ´99er Album „Verehrt und Angespien“. Die Musik des Songs reißt mit, und die lyrische Handlung ist unglaublich lebendig. Allerdings handeln nahezu alle eure Geschichten in der finstersten Vergangenheit. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, moderne Märchen zu erzählen? Märchen, in denen auch mal ein Telefon, ein Bahnsteig oder eine Mikrowelle vorkommen dürfen?
Y.P.: Eigentlich nicht. Das war innerhalb der Band nie ein ernsthaftes Thema. Es wäre sicherlich möglich, auch mal so eine Geschichte zu schreiben, aber es stand bislang nicht zur Debatte.“
RH: Von Album zu Album wird der Anteil an Eigenkompositionen und Texten höher. Zufall?
Y.P.: Die bekanntesten mittelalterlichen Texte und Liedüberlieferungen findet man ja auf unseren alten Platten. Mittlerweile muss man richtig wühlen, um interessantes altes Liedgut zu finden. Außerdem entwickeln wir mehr und mehr eine eigene Identität. Ich habe kürzlich in einem Museum alte Schriftstücke über Runenzauber aufgestöbert. Mal gucken, vielleicht wird sich das entsprechende Lied auf unserer nächsten Scheibe wiederfinden.“
RH: Ihr seid in ganz Europa bekannt, aber in den Staaten kennen euch nur ein paar Insider. Wann steht denn ein Großangriff auf den US-Markt bevor?
Y.P.: „Ich persönlich bin gar nicht so auf die Staaten fixiert. Wir haben bereits dort gespielt, das war auch ganz schön, aber mir persönlich reicht das. Ich glaube, dass die amerikanische Hörerschaft nicht besonders dankbar ist. Ich will den Amerikanern nicht zu nahe treten, aber ich denke, dass sich die Europäer intensiver mit Musik und mit Inhalten auseinander setzen. Die europäischen Fans sind treuer und dankbarer. Sie setzen sich mit allen Dingen, die eine Band betreffen, intensiv auseinander. Selbst Rammstein mussten in Amerika wieder bei Null anfangen, weil sie mal eine Zeit lang nicht in den USA gespielt hatten. Aus den Augen, aus dem Sinn – das passiert in Europa nicht so schnell.“
RH: Wann kommt bei IN EXTREMO der Moment, an dem einzelne Bandmitglieder sich zeitweise von ihrer Hauptbetätigung lösen, ihr eigenes Ego ausleben wollen und andere Projekte gründen?
Y.P.: „Jetzt. Wir Dudelsackspieler werden eine reine Mittelalter-Scheibe aufnehmen. Wann diese fertig ist, weiß ich nicht, da wir uns nicht unter Druck setzen werden. Wir haben in diesem Jahr mit IN EXTREMO kein einziges Konzert auf Mittelaltermärkten gegeben. Und das nicht nur aus Zeitgründen, sondern weil In Extremo zu viele Leute ziehen. Wenn du auf einem Mittelaltermarkt ein reines Akustikset vor über 500 Leuten spielst, kriegen die letzten Reihen weder die Musik noch Michaels Erzählungen mit. Und wenn man mit Strom arbeitet, geht jegliches Spontane und Authentische verloren. Also muss eine andere Lösung her.“
RH: Habt ihr schon das Aufnahmestudio mit dem Gefühl verlassen, ein Meisterwerk produziert zu haben?
Y.P.: „ Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir zumindest sehr euphorisch.“
RH: Und das Gegenteil? Ein Gefühl der Skepsis?
Y.P.: „Wir geben natürlich immer 100 Prozent, was allerdings nicht bedeutet, dass man hundertprozentig zufrieden ist. Jedes Mal, wenn wir das Studio verlassen, erahnen wir bereits eine Tendenz, wie das Album danach ungefähr klingen könnte.“
RH: Also denkt ihr bereits jetzt über die nächste Scheibe nach?
Y.P.: „Ja, jeder für sich. Wir sind zwar mit dem Erreichten zufrieden, aber auch irgendwie unzufrieden und rastlos.“
RH: Welche Interviewfrage kannst du nicht mehr hören und sollte verboten werden?
Y.P.: „Ich hatte vor ein paar Tagen ein Interview, welches das kürzeste und schlechteste von allen war. Ein Schreiber einer Tageszeitung stellte nur platte Fragen – wie zum Beispiel, wann wir endlich mal unser erstes Hotelzimmer zerlegen werden.“
RH: Und welche Frage würdest du gerne beantworten, nur leider wird sie dir nie gestellt?
Y.P.: „Da fällt mir nichts ein. Generell fasele ich oftmals zu viel und spreche gerne um ein Thema herum. Vermutlich deshalb kommuniziere ich auch viel mit den Fans, weil ich halt gern viel erzähle. Ich bin stolz auf diese Fans und darauf, dass sie anders sind und sich Sorgen machen.“
RH: Wenn es, wie bei euch, seit einigen Jahren ununterbrochen bergauf geht: Wie groß ist die Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren? Musstet ihr schon mal ein Bandmitglied zur Räson ziehen?
Y.P.: „Die Außenstehenden bekommen natürlich nicht mit, dass der Erfolg hart erarbeitet werden muss. Da bleibt man automatisch auf dem Boden. Es gibt immer wieder Momente der Angst, ob man das Richtige tut. Außerdem sind wir keine 18 mehr und stehen mit beiden Beinen im Leben. Jeder von uns hat eine Ausbildung gemacht. Andere hingegen landen direkt von der Schulbank auf großen Bühnen. Da ist die Gefahr viel größer, dass man den Bezug zur Realität verliert. Unser Busfahrer fährt manchmal Teenie-Bands. Die peilen wirklich gar nichts mehr. Einer von denen hat mal auf der Bühne ´ne sündhaft teure Gitarre zerschlagen und erst später im Bus begriffen, dass sein Instrument unwiederbringlich kaputt ist. Da war das Gejammer groß.“
RH: Wer ist der Wahnsinnigste in eurer Band?
Y.P.: „Michael. Er ist wahnsinnig im positiven Sinne. Er hat die Portion Wahnsinn, die ein guter Sänger und Frontmann braucht.“
RH: Und der Ruhepol?
Y.P.: „Unser Bassist Kay. Er nimmt oft die Sachen in die Hand, die man nicht aus dem Bauch heraus entscheiden sollte, über die man nachdenken muss.“
RH: Was ehrt euch mehr? Eine ausverkaufte Halle, in der die Leute ausrasten, oder Musiker bekannter Bands, die euch am Bühnenrand beobachten?
Y.P.: „Mir ist das Publikum wichtiger. Aber es ist schon ein gutes Gefühl, wenn bekannte Musiker am Bühnenrand stehen, obwohl wir noch nicht mal das Konzert begonnen haben. Ich zeige anderen Musikern auch meinen Respekt und hege keine Konkurrenzgedanken. Als wir noch unbekannt waren und im Vorprogramm anderer Bands spielen mussten, gab es die eine oder andere Gruppe, die uns das Leben schwer machen wollte. Wir jedenfalls haben uns vorgenommen, Newcomer fair zu behandeln.“
(Rock Hard 9/2003)
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