Ein Tag im Leben von In Extremo – von Lars Schmidt
7.Kapitel: 2002 – Die Lebensbeichte
Frankfurt/ Main, Batschkapp, 28.4.2002: Seit den großen Erfolgen ihrer letzten beiden Alben „Verehrt und angespien“ sowie „Sünder ohne Zügel“ gehören In Extremo nicht nur zu den besten alternativen Rockbands Deutschlands, sie sind auch einer der sehenswertesten Live-Acts. Ihre außergewöhnliche Mischung aus modernem Rock, mittelalterlichem Liedgut und Instrumenten wie Dudelsack, Harfe und Drehleier machte die Sieben vom Prenzlauer Berg bis nach Mexiko bekannt und brachte ihnen in diesem Jahr eine Echo-Nominierung ein. Genügend Gründe also, um bei der Band einmal hinter die Kulissen zu schauen.
Die engen Backstage-Räume der Batschkapp in Frankfurt versprühen weder Flair noch Atmosphäre. Sie wirken ungemütlich und kalt. Durch die offene Toilettentür dringt ein unangenehmer Geruch. Die achtköpfige Crew von In Extremo hat sich trotzdem so gut es geht eingerichtet. Die Berliner Mittelalter-Rocker werden an diesem Abend hier spielen. Doch bis dahin ist es noch lange hin. An der Wand hängt ein Ablaufplan. 11.00 Uhr – Einlass Catering steht dort als erster Punkt, gefolgt von 13.30 Uhr – Aufbau. Also noch 30 Minuten Ruhe für die Techniker. Zeit zum Essen und Kaffee trinken. Oder um ein kurzes Nickerchen zu machen. Auf dem Tisch unter dem Ablaufplan stehen Brot und Brötchen, Schinken- und Käseaufschnitt, daneben ein paar Joghurts, etwas Obst, Schokoriegel, Chips und eine Kaffeemaschine.
„Gegen 6.30 Uhr heute Morgen sind wir angekommen“ erzählt Dirk, der Tourmanager. Er hält hier alle Fäden in der Hand. Kümmert sich um die Einhaltung von Verträgen und Zeitplänen, macht die Abrechnungen und ist somit das Bindeglied zwischen Band und Veranstalter. Oder, wie er es nennt: „Das Mädchen für alles.“ Aber da die Crew von In Extremo ein eingespieltes Team ist, ebenso wie die Techniker der Batschkapp, sieht er heute einem „relativ unspektakulären Tag“ entgegen. Die Musiker halten sich derweil im Nightliner auf. Einige schlafen noch. Vor 16.00 Uhr, dann ist der Soundcheck angesetzt, gibt es für sie nichts zu tun. Langweilig wird es aber trotzdem nie, wie Dudelsackspieler Flex betont. „Gerade auf so einer Tour, der ersten des Jahres, passiert immer etwas. Zum Beispiel müssen die Instrumente noch aufeinander abgestimmt werden, das kriegt man im Proberaum nämlich nie hundertprozentig hin.“ Auf längeren Touren nehmen die Musiker sogar ihre Inline-Skates mit, gehen tagsüber in die Sauna, ins Schwimmbad oder shoppen. Außerdem hat jeder einen Laptop dabei, zum Spielen, Mailen oder auch um Ideen für neue Songs festzuhalten. „Was wirklich schlaucht“, sagt Flex, „ist die Wartezeit kurz vor dem Auftritt.
Die Crews von Band und Batschkapp haben inzwischen damit begonnen, das Equipment aus dem Busanhänger zu laden. Mehr als zwei Dutzend Kisten, circa eine Tonne Material, werden Richtung Bühne gerollt und getragen. Jens, der Pyrotechniker von In Extremo, koordiniert das Ganze. Eigentlich hätte er heute frei, denn die Feuershow der Band ist in der Batschkapp aus Sicherheitsgründen verboten. Aber statt rumzusitzen fasst er lieber mit an, obwohl: „das ja auf dieser kurzen Tour nur das kleine Equipment ist“, wie er weiß. „Normalerweise haben wir statt des Anhängers einen 7,5-Tonner für die Technik.“ Im Backstagebereich wird es trotzdem immer enger. Weil die Bühne für eine siebenköpfige Band sehr klein ist, müssen zwei große Koffer, unter anderem der für die Saiteninstrumente, dort abgestellt werden. Im Konzertsaal nimmt das Bühnenbild unterdessen langsam Gestalt an. Morgenstern, der Drummer von In Extremo, baut sein Schlagzeug eigenhändig auf einem Podest auf. Lichttechniker Uwe und Tontechniker Vadda verkabeln ihre Pulte. Jens legt den Bühnenboden mit einem alten Teppich aus. „Damit keiner ausrutscht!“, heißt es. Die Gefahr besteht durchaus, denn die Batschkapp ist für diesen Abend ausverkauft. Es wird also heiß und schweißtreibend.
Und es wird auch im Zuschauerraum eng. Deshalb ist die Batschkapp-Crew nicht begeistert, als die In Extremo-Techniker noch ein Extra-Podest für die Monitor-Lautsprecher vor die Bühne stellen wollen. „Auf den Platz, den das Podest einnimmt, passen zehn, zwölf Leute“, ist das Argument der Einen. „Egal, wir brauchen den Platz auf der Bühne, die ist eh schon so klein!“, kontert Tino, der für den Monitormix zuständig ist. Keiner will nachgeben. Da das Podest aber probehalber sowieso schon an seiner Stelle steht, bleibt dann doch alles wie es ist. „In solchen Situationen musst du die Ruhe bewahren“, sagt Hardy, der an diesem Sonntag auf Seiten des Clubs die Verantwortung in der Batschkapp trägt. „´Ne Lösung findet man immer. Hauptsache die Stimmung bleibt gut. Wenn die Band zufrieden ist, kann gar nichts mehr schief gehen.“ Merchandiser Puck ist aus Platzgründen schon nach draußen ausgewichen. CDs, T-Shirts und Aufkleber werden dann eben aus dem Anhänger heraus verkauft. Sein Hauptgeschäft wird allerdings erst nach Konzertende beginnen. Drei Bandmitglieder haben es sich währenddessen in der Küche gemütlich gemacht. Flex, Gitarrist Van Lange und Sänger Das Letzte Einhorn gucken sich das Formel 1-Rennen an. Die Vorband, Red Aim aus Saarbrücken, ist jetzt ebenfalls eingetroffen.
16.00 Uhr, Soundcheck: Langsam kommt Bewegung in die Räume der Batschkapp. Auch die anderen Bandmitglieder sind nun da. Pymonte (Dudelsack und Harfe) trägt sein Kostüm in die Garderobe. Flex geht sich die Zähne putzen, Van Lange schnappt sich seine beiden Gitarren, um sie zu stimmen. Über die Bühne klettert noch ein Helfer der Batschkapp in den Traversen und befestigt farbige Folien vor einigen Scheinwerfern. Puderzuckerähnlich bedeckt dicker, grauer Staub die Konstruktion unter der Decke. „Kieck ma Vadda“, ruft der In Extremo-Sänger fasziniert ins Mikro und zeigt mit dem Finger auf das staubige Stillleben. Nach einem kurzen Blick zur Decke beginnt der Tontechniker die klangliche Überprüfung jedes einzelnen Instruments. „Jetzt brauch ich bloß noch den Bass. Und ´n Kaffee“, ruft Vadda nach knapp zwei Stunden. Bassist Die Lutter entert als Letzter die Bühne zum Soundcheck. Das Letzte Einhorn hat die Zwischenzeit genutzt, um sein Notebook anzuschalten und Moorhühner abzuschießen. „Das macht Spaß!“, kommt er dabei jeder skeptischen Meinung zuvor. Doch dann muss auch er noch mal auf die Bühne, denn am Ende des Soundchecks spielt die Band immer drei Stücke komplett durch.
Backstage wird es immer voller. Außer In Extremo und Red Aim kommt jetzt auch noch ein Kamerateam der Agentur Reuters in die Katakomben des Batschkapp. Sie wollen ein Interview führen und Teile des Konzerts mitschneiden. Da kommt es wie gelegen, dass Tourmanager Dirk ruft: „Essen ist fertig!“ und die In Extremo-Leute sich in die Küche im oberen Stockwerk zurückziehen. Rouladen mit Rotkohl und Klößen steht auf dem Speiseplan. Red Aim starten nun ihren Soundcheck und für kurze Zeit ist es ungewöhnlich leer in den hinteren Bühnenräumen. Aber nicht lange. Micha empfängt zwei Mädels vom Fanklub In Extremo. Sie sind extra aus Wuppertal nach Frankfurt gekommen. Das Letzte Einhorn gibt in einem weiteren Raum dem TV-Team ein Interview. Der Platz draußen vor der Batschkapp füllt sich zusehends. Um 20.00 Uhr beginnt der Einlass. Yellow Pfeiffer, der dritte Dudelsackspieler der Band, probt noch ein paar Töne auf der Schalmei, dann nimmt er das Stimmblättchen heraus und legt es in eine Ampulle mit Wasser. „Das muss immer feucht gehalten werden“, erklärt er, „trocken kann man es nicht spielen.“ Der Auftritt rückt näher. Das ist spürbar. Immer öfter geht jetzt jemand an den großen Kühlschrank mit den Getränken. Red Bull scheint auf der Beliebtheitsskala ganz oben zu stehen. In Extremo haben sich in einen der Backstage-Räume zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen. Die vier Musiker von Red Aim ziehen sich zwischen Tür und Angel um. Ihr Auftritt steht bevor. „Eigentlich bin ich viel zu heiser“, sagt ihr Sänger, aber Punkt 21.00 Uhr stehen sie auf der Bühne. Doch nur 25 Minuten, statt geplanter 40. Der Sänger bricht den Gig ab. Keine Stimme mehr, nichts zu machen.
Plötzlich wird es hektisch. Zwar sollen In Extremo laut Plan erst um 22.00 Uhr beginnen, doch die Band weiß, dass da draußen einige hundert Leute dichtgedrängt auf sie warten. Also wird sofort und zügig mit dem Umbau begonnen. Red Aim bauen ab, In Extremo auf. Instrumente und Equipment werden aneinander vorbeigeschleppt, dazwischen der Kameramann des Fernsehteams, um spannende Aufnahmen bemüht. Das ist die Stunde von Micha, dem Backliner. Er ist dafür verantwortlich, dass die Musiker während des Auftritts die richtigen Instrumente gereicht bekommen, denn außer Gitarre, Bass, Drums und Dudelsäcken kommen da noch Harfe, Cyster, Nyckelharpa, Drehleier, Flöten und Schalmeien zum Einsatz. Die Musiker legen ihr Bühnenoutfit an, Sekt wird in Plastebecher gefüllt. Jeder bekommt einen. Dann stellen sich alle im Kreis auf. Halten einen Arm zur Mitte, wo sich alle Hände berühren und von einem Schrei begleitet wieder auseinander gehen. Danach ist es einen Moment lang verdächtig still. Selbst das Publikum, welches man Backstage lauthals nach seinen Stars rufen hört, scheint kurzzeitig verstummt zu sein. Micha kommt die Treppe zwischen Bühne und Backstage herunter und sagt fast andächtig: „Die Bühne ist bereit.“ Das Intro erklingt. Die Fans jubeln. Und langsam, einer nach dem anderen, treten In Extremo vor ihr Publikum und starten mit dem Titel „Stetit Puella“ das Konzert.
Zwei Stunden später. Nach einer Zugabe von vier Songs beendet die Band umjubelt und gefeiert diesen Auftritt. Nass geschwitzt aber zufrieden entledigen sie sich ihrer Kostüme und trocknen sich erst mal ab. Alle sind außer Atem. Die Technikcrew rotiert bereits beim Abbau. Heute muss alles noch schneller gehen als sonst, eine, höchstens eineinhalb Stunden sollen Abbau und Einladen dauern. Das Team der Batschkapp beginnt schon mit dem Ausfegen, als noch nicht einmal alle Gäste den Laden verlassen haben. Auch Puck hat stramm zu tun. Draußen vor dem Merchandising-Anhänger stehen die Fans Schlange. After-Show-Party? Fehlanzeige. Auch wenn Frankfurt das letzte Konzert dieser kurzen, nur fünftägigen Tour war. „Wir wollen alle so schnell wie möglich nach Hause“, ist die einhellige Meinung der Berliner, denn diese Tour war nur ein kleiner Vorgeschmack auf die bevorstehende Festivalsaison. Da wird In Extremo jedes Wochenende, von Freitag bis Montag unterwegs sein. Und die Party können sie ja auch auf der Heimfahrt im Bus steigen lassen. „Na, ab nach Hause?“, Busfahrer Karsten steckt seinen Kopf durch die Tür. Er hat den ganzen Nachmittag und Abend geschlafen, jetzt ist er wach und abfahrbereit. Sein Job im Unternehmen In Extremo beginnt, wenn alle anderen Feierabend machen. Nur mit einem Frühstück für ihn sieht es schlecht aus, denn bis auf Salzstangen und Kaffee ist das Büffet leergefegt. War schließlich ein langer Tag, Backstage bei In Extremo.
Nach den beiden Festivals, dem „Wave/Gotic-Treffen“ in Leipzig (u.a. mit Subway To Sally und Schandmaul) und dem „Open Flair“ in Eschwege (mit Die Happy und Fettes Brot) ging es endlich an den Mitschnitt für die DVD: Das Konzert am Kyffhäuser-Denkmal in der Nähe der thüringischen Stadt Kelbra sollte in ganzer Länge mitgeschnitten werden.
Es wurde mehr als chaotisch. Abgesehen von der „gut funktionierenden Kommunikation“ zwischen den Veranstaltern, der Booking-Agentur und nicht zuletzt der „Mercury“ regnete es natürlich den ganzen Tag vor der Veranstaltung und auch der darauffolgende 8.Juni überzeugte wenig mit dunklem Novemberwetter und tiefhängender Wolkendecke. Beste Voraussetzungen also. Unsere Techniker und die Bühnen- und PA-Crew hatten seit Tagen alle Hände voll zu tun und die Laune war, entsprechend der Wetterprognosen, tief im Keller. Nachdem dann auch noch die Band eintraf und feststellte, dass die Bühne zu klein und vor allem zu hoch war, sodass noch einmal komplett umgebaut werden musste, hing der „Haussegen“ endgültig schief. Aber wir wären nicht In Extremo, wenn wir uns nicht trotzdem durchgesetzt hätten – schließlich sollte es unsere DVD werden und kein x-beliebiges Konzert in Pitschenpickel. Der Veranstalter sah, mit einem Blick zum Himmel und auf unsere Anforderungen, seine Felle davonschwimmen und betete, dass ihn genügend Zuschauer vor einem Konkurs und Offenbarungseid retten würden.
Doch der Liebe Gott hatte ein Einsehen mit seiner Lieblingsband und trieb die Wolkendecke kurzerhand weiter nach Osten und ließ uns, bis auf ein paar kleine Tröpfchen, von seinem Vorhaben verschont. Und schon am frühen Nachmittag trafen bereits die ersten Leute ein und ließen das Herz des Veranstalters (und natürlich auch unseres) wieder deutlich höher schlagen. Gegen 18.00 Uhr stauten sich wahre Massen vor den kleinen Kassenhäuschen und das Gelände auf dem Denkmal drohte zu eng zu werden. Über 2400 Zuschauer harrten mit einem Male der Dinge, die da kommen sollten.
Wir hatten uns gut vorbereitet, schließlich hatten wir den Plan, wenn der Sound es denn zuließ, von diesem Material außerdem noch eine Live-CD pressen zu lassen. Zu diesem Zweck probten wir auch einige der schon lange nicht mehr gespielte Stücke wie „Am Galgen“ und die „Pavane“. Leider konnten aber, schon aus Zeitgründen, nicht alle 24 Stücke verewigt werden und wir mussten uns schweren Herzens auf eine Auswahl beschränken. Doch so gut das Konzert und die eingefangenen Bilder auch waren – so lang war letztendlich auch die Liste der technischen Schwierigkeiten. Schon Minuten nach dem Auftritt mussten wir erfahren, dass die Mikrofonspuren, welche die Zuschauerreaktionen einfangen sollten, während der ersten 6 Songs komplett versagten. Es roch nach einer Menge Nachbearbeitungszeit, doch das alles sollte erst der Anfang sein. Doch dazu später mehr.
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