Allein in Elbflorenz
Red Scar Eyes – Mitch Ryder (Got Change For A Million/1981)
Irgendwie erreichte ich doch noch die letzte U-Bahn in Richtung Pankow. Gott sei Dank, denn nach diversen schlecht gemixten Cola-Wodka-Mischungen verspürte ich nicht die geringste Lust, den ganzen Weg in den Prenzlauer Berg zurück zu laufen. Ich war gerade die Treppe aus dem HdjT herunter gestolpert, einem Laden, in dem jeden Dienstag die wichtigsten Berliner Bands spielten – oder diejenigen, die sich dafür hielten. Doch leider musste man sich dort den Abend jedes Mal lustig trinken, denn die Stimmung galt schon dann als auf dem Siedepunkt, wenn nur jemand leicht mit dem Fuß im Takt mit wippte. Hier im HdjT hatte man nicht wirklich Spaß, hier ging es fast ausschließlich ums Sehen und Gesehen werden. Man amüsierte sich allenfalls über das Geschehen auf der Bühne.
Das Publikum bestand aus der typischen Berliner Musikantenpolizei, genauer gesagt aus männlichen Musikern, die mit verschränkten Armen und mit alkoholischen Getränken bewaffnet, finster in Richtung Bühne blickten. So ähnlich musste es damals im römischen Kolosseum gewesen sein, denn auch im HdjT war es äußerst selten, dass die Daumen nach einer Vorstellung nach oben gingen. Ich erinnere mich vage an eine Band namens Villon, die noch kurz vor ihrem Konzert behaupteten, dass die Stimmung im Saal grandios werden würde, da die Wixer heute ausnahmsweise auf der Bühne stehen würden. Doch darum soll es jetzt nicht gehen…
Es war ein verregneter und kalter Februar 1985. Zweieinhalb Jahre zuvor war ich nach Berlin gezogen und war zum ersten Mal in diesem Laden hier gelandet. Mangels an Gelegenheiten war das hier mittlerweile mein Stammladen geworden, zumindest mein Dienstagabend – Stammladen. Ich hatte damals den Plan gefasst in einer Band zu spielen, möglichst in einer der angesagten Bluesbands, denn schließlich war ich Hippie und wollte nichts weiter als die Welt verändern. Wenn ich dabei auch noch Geld verdienen könnte, würde ich das gern in Kauf nehmen. Der Plan schien äußerst schwierig, doch nicht unmöglich und das Haus der jungen Talente war auf jeden Fall für den Anfang genau der richtige Ort, soviel hatte ich in den wenigen Wochen, die ich nun inmitten des Szenebezirks Berlin – Prenzlauer Berg wohnte, mitbekommen. Und hier, etwas außerhalb des Künstlerghettos, war jeden Dienstag der berüchtigte Sklavenmarkt. Wenn irgendwo ein Posten zu vergeben war, wenn Bands gegründet oder aufgelöst wurden, wenn maßlos überteuerte Westinstrumente im Angebot waren oder wenn Kontakte geknüpft werden mussten, dann wusste man hier Bescheid.
Mehr als ein Jahr nach meinem ersten Besuch im HdjT war ich schließlich am Ziel meiner Wünsche angelangt. Ich landete ausgerechnet bei Freygang, einer der legendärsten – in jeder Hinsicht aber der umstrittensten – Underground-Band der DDR. Das hatte zwar den unzweifelhaften Vorteil, dass ich von nun an nicht mehr alle Getränke selbst bezahlen musste, andererseits stolperte ich mit meinem Einstieg in diese Band gleich direkt in ein Spielverbot – und bei Freygang machten wir es nie unter „lebenslänglich“.
Die Station bis zum Alexanderplatz ging ich wie immer zu Fuß, schon um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Außerdem passierte es nicht selten, dass in den Abendstunden Pendelverkehr war. So wie heute. So wie eigentlich jeden Abend. Da fuhr die gottverdammte U-Bahn nur jeweils eine einzige Station, man musste anschließend eine Ewigkeit auf den Gegenzug warten, nur um dann den Bahnsteig und die Bahn erneut zu wechseln. Der nächste Zug fuhr dann meist auch wieder nur eine einzige Station, immer den orangefarbenen Bauarbeitern auf den Gleisen ausweichend. So richtig Sinn machte das Ganze für mich nicht. Doch heute Nacht wollte ich nicht darüber nachdenken, was in diesem Land alles schief lief und ich hatte auch keine Lust, die Betrunkenen beim Pendeln zu beobachten, was sonst eigentlich immer ganz amüsant war. Neulich schlief jemand sogar auf seinen Milchtüten ein und machte es sich so lange darauf bequem, bis sich das Zeug mit spitzem Strahl im gesamten Waggon verteilte.
Ich war trotzdem gut gelaunt, denn heute Abend hatte endlich mal eine Band gespielt, die ich mochte. Es war Monokel, eine ziemlich bekannte Berliner Bluesband, der ich in der Vergangenheit mit meinen Freunden ein paar Mal hinterher getrampt war. Wir trampten gern den Bands hinterher, die wie wir lange Haare trugen und es ging oftmals gar nicht um die Musik selbst, sondern einfach darum, Freunde zu treffen und unterwegs zu sein. Doch seitdem ich nicht mehr vor, sondern vor allem auf der Bühne stand, hatte sich das Blatt für mich gewandt, denn Freygang hatte vor kurzem, durch eine mehr als wunderliche Fügung, eine befristet Spielerlaubnis erhalten. Allein auf Grund des Rufes, welcher meiner Band vorauseilte, hasste uns die Konkurrenz von nun an wie die Pest und versuchte uns Steine in den Weg zu legen, wo es nur irgend ging. Auch Monokel wussten also, dass ich nicht nur ein einfacher Zuhörer war. Doch ich hatte beschlossen, das alles nicht an mich heranzulassen und fuhr heute mit einer großartigen Melodie im Ohr zurück nach Hause, von der ich nicht wusste woher sie kam. Dieser Gedanke machte mich einfach verrückt. Konnte es sein, dass eine der Bands heute so eine grandiose Melodie gespielt hatte? Ich zermarterte mir das Hirn, doch ich kam einfach nicht darauf.
In meiner kalten Studentenwohnung konnte ich nicht einschlafen und wälzte mich gedankenschwer hin und her. Mein Freund und Gitarrist Gerry saß bestimmt noch im Mosaik und ich überlegte kurz, doch noch hinüberzugehen, auch wenn es jetzt schon weit nach Mitternacht war. Den morgigen Tag konnte ich dann natürlich vergessen und ich dachte mit Grauen an den Russischunterricht, der sich wieder quälend über den gesamten Vormittag hinziehen würde. Doch ich hasste es allein zu sein und ich dachte an meine Freundin, die eine Tagesreise entfernt in Eisenach wohnte. Ich hätte ihr gern persönlich mein Leid geklagt, doch jetzt nach Mitternacht war es ohnehin zu spät um anzurufen. Außerdem war es immer wie ein Sechser im Lotto, wenn das Geld nicht gleich im Schlitz stecken blieb oder einfach durchrutschte, wenn die Leitungen nicht wieder überlastet waren und wenn am anderen Ende überhaupt jemand den Hörer abnahm. Wer auch immer es dann war.
Das Thermometer bewegte sich um den Gefrierpunkt und mein Ölradiator kämpfte tapfer, aber aussichtslos gegen die Kälte der drei Außenwände meiner Wohnung. Man konnte diese Bude eigentlich nicht als Wohnung bezeichnen und es machte alles eigentlich keinen Sinn, denn wärmer wurde es hier drinnen erst im Frühjahr. Bis dahin musste die einzige Steckdose noch durchhalten und den Westradiator ertragen. Doch die beiden konnten sich irgendwie nicht leiden, denn die Steckdose begann bereits nach wenigen Minuten zu stinken und knisterte stetig vor sich hin.
Ich bekam die Melodie einfach nicht aus dem Ohr, also zog ich mich wieder an, zündete die großen Altarkerzen an, die neben meiner Matratze den großen, mit einem CND-Stern bemalten Teppich an der Wand beleuchteten, holte mir eine Flasche Rotwein aus der Küche und stimmte die Gitarre. Heute Nacht war irgendwie Platz genug für Selbstmitleid und bevor ich mit der Melodie nicht irgendetwas angestellt hatte, würde sich der Schlaf sowieso nicht blicken lassen.
Ich versuchte es für den Anfang ganz klassisch mit A-Moll, einem Griff, den auch Bassisten ohne weiteres aus dem ff beherrschen. Und plötzlich fügte sich die kleine Melodie wie von Zauberhand ganz allein perfekt in die Harmonie. Sollte diese Melodie vielleicht doch meine eigene sein? War das etwa der große Erweckungsmoment, wenn man von der Muse geküsst wurde? Wie schrieb man eigentlich Songs? Ich hatte nie darüber nachgedacht. Setzte man sich da entspannt an den Schreibtisch und wartet darauf, dass einem die Gedanken nur so zuflogen? Ich hatte bisher nur ein paar Texte geschrieben und da war es relativ einfach: Wenn ich wütend war, dann wurden es wütende Texte, war ich traurig, wurden die Texte auch traurig, war ich verliebt, dann ging es eben um die Liebe. Aber einen ganzen Song hatte ich noch nie geschrieben.
Ich hielt mich fürs erste an die Flasche Rotwein und fing an zu improvisieren. Ich dachte an den schönen Sommer, in dem ich mit meiner Freundin gemeinsam durch Bulgarien getrampt bin und je betrunkener ich wurde, desto mehr dachte ich daran, wie traurig es doch war, hier in dieser kalten Bude allein rumzusitzen und mit klammen Fingern auf der Gitarre zu klimpern. Plötzlich kamen die Worte wie von allein, während ich mich auf zwei einsame Harmonien beschränkte und in Selbstmitleid versank.
Das grelle Licht flimmert
Und ich mach die Augen zu
Mein Kopf sinkt auf die Knie
Ich finde keine Ruh
Der Bass sägt an den Nerven
Mein Bierglas kippt um
Die Wände stürzen ein
Und ich dreh mich um
Ich war selbst überrascht, dass es so einfach war, mein Innerstes herauszulassen und auf Papier zu bringen. Die kleine, hartnäckige Melodie passte einfach perfekt zu den beiden Akkorden und ich wollte es dabei belassen. Ich beschloss, dass ein Refrain nicht mehr nötig wäre, zumal mir in meinem jetzigen Zustand auch keiner mehr einfallen würde. Ich schrieb noch eine Strophe, trank den Rest der Flasche noch aus und erhob die kleine, hartnäckige Melodie einfach zum Refrain. Bei Uriah Heep hatte das mit Lady in Black schließlich auch funktioniert. Die zweite Strophe war ganz einfach, denn ich hatte nach der letzten Neige aus der Rotweinflasche beschlossen, dass das Leben mich nicht gerade bevorzugt behandelte: Die Flasche war alle, meine Freundin war weit weg, das Studium ödete mich an, das Stipendium reichte hinten und vorne nicht, die Band durfte nur im Umkreis von 20 km um Berlin spielen, in der Wohnung war es saukalt und die Sonne würde erst im Frühjahr wieder scheinen. Wenn überhaupt!
Totenstille
Niemand spricht ein Wort
Keine Hand greift nach mir
Niemand zieht mich fort
Die Dunkelheit kommt langsam
Und spuckt mir ins Gesicht
Und ich hoffe noch dass du kommst
Und rettest mich
Am nächsten Tag nahm ich das Textblatt mit zur Probe. Wie immer kam unser Sänger zu spät, was mich aber heute nicht wirklich störte, denn so konnte ich mit Gerry und unserem Schlagzeuger das Stück schon einmal durchgehen. Gerry mochte meinen Song auf Anhieb, insbesondere die Tatsache, dass er eigentlich nur aus zwei Harmonien bestand. So hatte er genügend Platz für seine Gitarrensolos. Im Gegensatz zu unserem Sänger waren ihm Texte nicht ganz so wichtig, es sei denn sie waren wirklich zu blöd. Aber die Gefahr bestand bei Andre natürlich nicht, ganz im Gegenteil. Unser Sänger hatte zu dieser Zeit den Ruf einer der besten Songschreiber der Szene zu sein und ich hatte etwas Angst vor seinem möglicherweise vernichtenden Urteil.
Nachdem wir den Song grob geprobt hatten, kam auch Andre endlich. Eigentlich improvisierten wir bei unseren Proben immer so lange, bis wir ein interessantes Thema gefunden hatten, aus dem es sich lohnte, einen richtigen Song zu erarbeiten. Das konnte manchmal stundenlang dauern und nicht jeder hatte jeden Tag Lust dazu. So war Andre ganz froh, dass wir nun schon einen Song halbwegs fertig hatten. Ich drückte ihm meinen Zettel während des Spielens einfach in die Hand.
„Hast du auch eine Melodie dafür?“, brüllte er durch den Lärm. Ich nickte bloß stumm und spielte ihm meine kleine, hartnäckige Melodie in den oberen Lagen des Basses vor. „Das kannst du gleich so lassen! Ich singe einfach dasselbe! Und Gerry spielt erst mal nur die Harmonien!“
Gerry konnte es partout nicht leiden, wenn man ihm Vorschriften machte, doch er hatte heute keine Lust mit Andre zu streiten. Doch irgendwie spürten wir, dass aus diesem Song einmal etwas werden könnte. Wir nahmen das Schlagzeug und den Bass aus der ersten Strophe heraus und ich beschränkte mich darauf, die Gesangsmelodie mit dem Bass zu doppeln. Dann, nach den beiden Gesangsstrophen und einem langen Break, startete Gerry zu einem fulminanten Solo, das irgendwann nach fünf Minuten im Nirvana verebbte. Fertig.
„Und? Wie heißt das Stück?“ Ich überlegte kurz.
„Allein!“
Ganz klar, wie sollte mein Stück sonst heißen?
„Wollen wir den Text so lassen? Ist ja schließlich deiner! Ich würde nichts mehr daran ändern!“
Und dabei blieb es. Wir sprachen einfach nicht über den Inhalt. Warum auch? Ich hatte ja alles gesagt. Doch die Tatsache, dass Andre meinen Text unverändert singen wollte, machte mich schon ein wenig stolz.
Ich hatte immer noch nicht herausbekommen, woher die kleine Melodie nun eigentlich stammte, doch nun, mit meinem eigenen Text und mit dieser Band, hatte sie endlich ihre neue Heimat gefunden und ich dachte fortan auch nicht mehr über ihre Herkunft nach.
Ein paar Wochen später begannen wir eigene Konzerte zu spielen, die Auflage nur innerhalb des Sputnik-Bereiches zu spielen – so wurde von den meisten Berlinern die das Stadtgebiet umlaufende Ringbahn genannt – nahmen wir, mit dem Hinweis auf den russischen Satelliten gleichen Namens, nicht sonderlich ernst. Ende Mai mussten wir uns mit einem Auftritt im Berliner Prater, neben ein paar anderen Bands, dann erneut einer Einstufungskommission stellen. Unser Publikum musste selbstredend draußen bleiben. Wir trugen ein paar Alternativvarianten unserer Texte vor, machten gute Miene zum bösen Spiel und siehe da – die Band erhielt eine weitere Gnadenfrist. Doch man gab uns den guten Ratschlag den Bogen nicht zu überspannen. Wir blieben unter Beobachtung. Überraschenderweise bekamen wir an diesem denkwürdigen Tag der Wiederzulassung sogar noch einen Preis verliehen, eine Urkunde für die beste Komposition – für Allein! Da hatte ich also an meinem Abend in geistiger Umnachtung wohlmöglich einen ernstzunehmenden Song geschrieben und bekam auch noch einen Preis dafür. Es war zwar lächerlich, doch ich freute mich trotzdem.
Im Sommer 1986 nahmen wir unsere besten Songs in einem Landhaus mitten im Oderbruch auf, um sie später vielleicht einmal auf Platte zu pressen oder irgendwie anders zu veröffentlichen. Allein war auch mit unter den auserwählten Songs. Freygang hatte nach wie vor ein riesiges Fanpotential und die Massen folgten uns auf jedes noch so kleine Dorf. Das hatte sich inzwischen selbst bis zur einzigen ostdeutschen Plattenfirma Amiga durchgesprochen, die uns ein sehr vages Angebot machte. Doch den Behörden waren wir auf Grund unseres Anhanges, den sie eher als asozialen Pöbel, denn als Fans verstanden und den wir ihrer Meinung nach durch unser provokantes Auftreten gezielt zu nichtsozialistischem Lebenswandel anstachelten, ein Dorn im Auge. Freygang wurde im September 1986 erneut verboten und dieses Mal bekamen wir wieder lebenslänglich.
Wir starteten noch ein paar spektakuläre Aktionen, doch es kam natürlich kein Geld mehr in die Kasse. Von den wenigen konspirativen Konzerten unter anderem Namen konnten wir nicht leben. Erst im Sommer 1989, nachdem die ersten Ostler durchs Maisfeld nach Österreich geflohen waren, begannen wir mit der Band wieder aufzutreten.
„Spielt doch mal wieder Elbflorenz, das war so eine geile Nummer“, sprach mich gleich nach dem ersten Konzert ein Fan aus Dresden an.
„Elbflorenz kenn‘ ich nicht. Wir haben niemals einen Song namens Elbflorenz gespielt!“
„Doch! Habt ihr!“, protestierte mein Gegenüber. „Da hast du doch selbst den Text gemacht! Der Song ohne Refrain!“
Ich wusste wirklich nicht, was er mit Elbflorenz meinte. Nie im Leben hätte ich einem Song so einen bescheuerten Namen gegeben. Doch schon zwei Tage später kamen die nächsten Fragen nach Elbflorenz und so langsam dämmerte es mir. Leider hatten wir inzwischen andere Probleme, denn kurz nach den ersten Konzerten verließ uns Gerry, wie so viele andere auch, ebenfalls über Ungarn und wir standen plötzlich ohne Gitarristen da. Elbflorenz war von nun an kein Thema mehr, denn das Bandkarussell rotierte und wir begannen mit neuen Leuten wieder ganz von vorn, mit völlig neuen Songs. Die Wendezeit war kurz und irre, alles um uns herum sprühte vor Ideen, doch ich merkte langsam, wie uns das Ruder aus der Hand glitt. Es ging nur noch um den äußeren Schein und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass uns plötzlich auch der gemeinsame Feind fehlte. Außerdem vermisste ich Gerry und vor allem die Songs, die wir früher zusammen geschrieben hatten. Ich verließ die Band mit keinem guten Gefühl.
Freygang, die einen Großteil meines Lebens mitbestimmt hatten, waren nun Vergangenheit. Ich vermisste sie nicht und unser Kontakt beschränkte sich anfangs auf eher zufällige Treffen in den einschlägigen Kneipen. Vier Jahre später rief Andre mich an und fragte, ob ich die Bänder von den Aufnahmen aus dem Oderbruch noch hätte. Aus irgendeinem Grund war ein Teil unserer Aufnahmen von 1986 wohl bei mir in der WG gelandet, doch ich wusste nicht, wer sie dort hingebracht hatte und vor allem nicht wo sie inzwischen waren, denn ich war mittlerweile umgezogen. Was sollte ich auch mit den alten Bändern? Ich hatte das Thema Freygang abgeschlossen, doch Andre plante die Aufnahmen von damals auf CD zu veröffentlichen und ließ die restlichen Bänder bereits digitalisieren. Allein/Elbflorenz war leider nicht unter den Aufnahmen, denn dieses Band war wohl auf nimmer Wiedersehen in den Untiefen unseres WG-Bücherverlieses verschwunden.
1996, gut zehn Jahre nach den Aufnahmen, erschien die CD endlich unter dem Titel „Steil & Geil“. Ich freute mich, schließlich war es irgendwie auch meine erste CD, auch wenn ich kein Bandmitglied mehr war. Doch Allein – oder von mir aus auch Elbflorenz – vermisste ich schmerzlich, zumal mir viele Leute erzählten, dass Freygang den Song inzwischen wieder im Programm hatte. Ein paar Wochen nach der Veröffentlichung der CD fand ich das Band schließlich zufällig in einem großen Umzugskarton, eingeklemmt zwischen diversen Taschenbüchern. Wenn auch zu spät, gab ich das Band Andre. Vielleicht hatte der Song es auch nicht verdient zu erscheinen. Wiederum zehn Jahre später gab es für mich einen kleinen Trost, denn die Band veröffentlichte ein Songbuch, indem auch Allein unter dem Namen Elbflorenz erschien. Ich weiß ich bis heute nicht, wer auf diesen Namen kam. Und vor allem warum? Elbflorenz? Was hat dieser Song denn mit Dresden zu tun?
An einem schönen Sommertag im Jahr 2008 arbeitete ich gerade wieder an ein paar Texten. Um mich zu motivieren und vor allem um nicht immer in ein und derselben Stimmung zu verharren, hatte ich mir angewöhnt, meinen Mp3-Player stets auf „zufällige Wiedergabe“ zu stellen um mich so durch die verschiedenen Stimmungen treiben zu lassen. Plötzlich erstarre ich förmlich zur Salzsäule, denn es läuft ein Song, den ich zwar sehr gut kenne, den ich aber in dieser Form noch nie gehört habe. Es ist Red Scar Eyes von Mytch Rider. Und da ist sie mit einem Mal wieder zurück – meine kleine, hartnäckige Melodie, die mich in dieser einen Nacht vor 23 Jahren so dermaßen verärgert hat. Ich konnte es einfach nicht glauben!
Plötzlich sehe ich mich an diesem Abend wieder als jungen Musiker an der U-Bahn stehen und es kommt mir so vor, als wenn alles erst gestern passiert wäre. Wahrscheinlich hatte eine der Bands diesen Song in ihrem Programm gehabt, dessen Melodie mich in dieser Nacht nicht schlafen ließ und dessen Ergebnis dann irgendwie selbst Geschichte gemacht hat. Und nun war mir auch klar, warum es einer der besten Songs nie zu einer Veröffentlichung gebracht hat. Es sollte einfach nicht sein.
Im Dezember 2008 verstarb Andre und ich traf seine Band und viele meiner ehemaligen Freunde unter traurigen Umständen an seinem Grab wieder. Für den Januar 2009 wurde schließlich ein Gedenkkonzert für Andre verabredet, bei dem ein Teil von In Extremo mit Sebastian Baur von Knorkator als Gast mitspielte. Nach unserem kleinen Beitrag kam Egon, der Freygang-Gitarrist, auf mich zu und fragte, ob ich mit Gerry und unserem alten Schlagzeuger noch zwei Songs mit Freygang spielen möchte. Ich freute mich darauf, denn es war mittlerweile fast 20 Jahre her, dass wir gemeinsam auf der Bühne standen. Sie würden erst einmal ihr Programm spielen und wir sollten während des letzten Songs schon mal hinter der Bühne warten.
„Was spielt ihr denn als letzten Song?“, fragte ich, um mich schon mal darauf einstellen zu können.
„Kay, den kennst du auch von früher. Der Song heißt Elbflorenz!“
Das ist ja irre. Ich hab mich auch oft gefragt warum aus dem Song Allein Elbflorenz wurde. Hier ist die Story dazu. Aber leider weiß Kay auch keine Antwort darauf. Vielleicht findet sich ja noch jemand der es weiß!?