Live Tourstory In Extremo von Stefan Müller (Hammer)
6.Kapitel: 2001 – Quo vadis In Extremo?
Die Entwicklung von In Extremo erscheint vor allen Dingen eines: rasant. Gerade einmal 3 Jahre liegt die Veröffentlichung des Debüts WECKT DIE TOTEN zurück. Mit SÜNDER OHNE ZÜGEL gelang es den Berlinern, in diesem Jahr erstmals die Top Ten der deutschen Album-Charts zu entern. HAMMER stürzte sich ins Tour-Gewimmel, um dem Erfolgsrezept der Truppe auf die Spur zu kommen.
14.November – Halle, Easy Schorre
Ein unerfreuliches Ereignis geht der Konzertreise voraus: Eigentlich hätte die In Extremo-Tournee bereits im Oktober über die Bühne gehen sollen, doch Bassist Die Lutter klagte über starke Schmerzen im Unterleibsbereich, die sich nach eingehender Untersuchung als Darmtumor herausstellten. Da In Extremo nicht auf seine Genesung warten konnten, übernimmt zunächst Totti von der Berliner Crossover-Combo Boon den Posten am Langholz. „Wir kennen Totti schon seit Jahren. Ansonsten hätten wir das gar nicht erst in Betracht gezogen“, berichtet Das Letzte Einhorn. Dem etatmäßigem Basser Kay geht es inzwischen wieder besser, nachdem er die Chemotherapie – bei der er innerhalb von 4 Wochen 20 Kilo Gewicht verlor – hinter sich hat.
Als das Konzert gegen 21:00 Uhr mit den Dark-Metallern Thanateros beginnt, stehen die Reihen im Saal nicht unbedingt dicht gedrängt. Daher fallen die Reaktionen auf die ersten Stücke verhalten aus, was unter anderem auch auf die mangelnde Live-Erfahrung der Gruppe zurückzuführen ist. Die Musiker um den ehemaligen Evereve-Sänger Ben Richter mühen sich trotzdem redlich. Eindrucksvoll, wenn auch nicht ohne humorige Note, erscheint die Plüschpelzkluft, die alle Bandmitglieder zu Beginn des Sets tragen. Im Gegensatz zum opulenten Outfit präsentiert sich das Klangbild zunächst extrem bescheiden. Glücklicherweise bessert sich dies mit zunehmender Spielzeit, so dass die Meute beim abschließendem „Chaos Rising“ richtig mitgeht. Währenddessen hängen In Extremo im Backstage-Raum vor einem Fernseher, kämpft doch die deutsche Nationalmannschaft gerade um ihre Teilnahme an der WM-Endrunde. Als es bereits nach 15 Minuten 3:0 für die Deutschen steht, entpuppt sich Das Letzte Einhorn als wahrer Kicker-Kenner: „Die haben nur Schwein gehabt. Wenn die Ukrainer das erste Tor machen, haben die doch die Hosen voll.“ Auf Zufallstreffer verlassen sich die Berliner bei ihrem anschließenden Auftritt nicht: Was sich in den folgenden 100 Minuten abspielt, lässt sich kaum in Worte fassen. Es fällt schwer, einen Song herauszupicken, denn jedes Stück, welches das Septett vor 700 jubelnden Fans zum Besten gibt, entpuppt sich als echtes Highlight. Wenn es einen „primus inter pares“ gibt, dann vielleicht „Vollmond“, das von dem unglaublichen Harfen-Thema eröffnet wird. Das Publikum feiert eine gigantische Party: Die Fans beklatschen jeden Lichteffekt, jede Feuerfontäne – ja sogar die kleinen choreografischen Einlagen der Musiker werden mit Applaus bedacht. Gastbasser Totti bildet mit Trommler Der Morgenstern eine starke Rhythmus-Sektion, was nicht nur für seine musikalischen Fähigkeiten spricht – schließlich hatte er gerade einmal 4 Wochen Zeit, 26 Songs zu lernen -, sondern auch für das familiäre Klima innerhalb der Band. Das Letzte Einhorn besticht durch Entertainer-Qualitäten, während die Mittelalterfraktion den akustischen und auch optischen Mittelpunkt der Band bildet. Nach Konzertende sieht man nur zufriedene Gesichter, was durch die Tatsache, dass ein Großteil der Combo bereits direkt nach dem Auftritt für Autogrammwünsche zur Verfügung steht, verstärkt wird.
15. November – Hamburg, Große Freiheit
Alle sind gespannt, da im Vorverkauf über 1.200 Tickets abgesetzt wurden und daher eine große Show ins Haus steht. Die Große Freiheit erfreut sich bei Musikern und Crew-Mitgliedern großer Beliebtheit, was natürlich nicht zuletzt daran liegt, dass der Schuppen in direkter Nachbarschaft zur Reeperbahn, Vergnügungsmeile Nummer Eins, gelegen ist. So steht der Nachmittag im Zeichen diverser Einkäufe – allerdings finden die beiden an der Straßenecke stehenden transsexuellen Prostituierten mit brasilianischem Einschlag im Tourtross keine willigen Kunden.
In Extremo-Sänger Das Letzte Einhorn vergnügt sich am Nachmittag im Catering-Bereich. So hat sich der Frontmann, der eigentlich immer durch sein lockeres Mundwerk auffällt, eine ganz eigene Beschäftigungstherapie verordnet. Seinen Gefallen an einer Vorankündigung des heutigen Konzertes in einer Hamburger Boulevardzeitung dokumentiert er, indem er das abgedruckte Bild mit eigenwilligen Ergänzungen schmückt. Anwesende Kollegen müssen immer wieder die kreative Kunst mit Aufmerksamkeit bedenken. „Guck mal, Bastian sieht aus wie Hannibal Lector“, bringt der Künstler seine Freude an seiner Arbeit zum Ausdruck.
Als sich am Abend die Türen der Großen Freiheit öffnen, sammelt sich bereits bei Thanateros eine beeindruckende Menschenmasse vor der Bühne. Im Gegensatz zum Vortag wirken die ebenfalls aus Berlin stammenden Gothic-Metaller heute einen Tick souveräner. Als besonderes Schmankerl präsentiert der Fünfer bei „Ocean Of Mind“ den Gastauftritt von Sängerin Antje Dieckmann. Die Mortalia-Vokalistin zeigt sich erfreut und aufgeregt zugleich: „ich würde auch gerne mal mit meiner Band unter solchen Bedingungen auf Tour gehen.“ Tolerante Metaller freuen sich über die zahlreichen Doppelbass-Passagen, die zum Schütteln des Haupthaares animieren, während die sphärisch angehauchten Parts die anwesende Gothic-Fraktion zu schwebenden Tanzbewegungen einlädt.
Mit dem Beginn des Auftritts von In Extremo hält schlagartig Enge Einzug in der Großen Freiheit. Die Setlist besteht im Wesentlichen aus den gleichen Stücken wie am Vorabend. Zwölf Stücke stammen vom aktuellen Album SÜNDER OHNE ZÜGEL, von WECKT DIE TOTEN und VEREHRT UND ANGESPIEN kommen jeweils fünf Lieder zum Einsatz. Yellow Pfeiffer und Flex der Biegsame ernten für ihre artistischen Einlagen einen Sonderapplaus, ansonsten wird in punkto Optik diesmal nicht alles geboten, denn die Sieben dürfen nicht ihr volles Arsenal an Pyrotechnik abfeuern, da die örtlichen Gegebenheiten das nicht zulassen.
Nach der Show zerstreut sich der Tourtross: Während Thanateros den Abend gemächlich bei einem Bierchen im Bus ausklingen lassen, trifft sich der Headliner mit Vertretern der Plattenfirma. Nachdem der geschäftliche Part erledigt ist, zieht es die In Extremo-Musiker in eine Kneipe um die Ecke, wo eine entspannte Atmosphäre herrscht. Als ein sichtlich angetrunkener, weiblicher Fan vom Barhocker fällt und bei dieser Aktion den halben Tisch abräumt, ist es für mich an der Zeit, aufzubrechen…
16.November – Gotha, Stadthalle
Da sage noch einer, dass es heutzutage keine Solidarität mehr gibt: als Tonmensch Tino während des Soundchecks mit dem Fuß umknickt, bewegen sich kurzzeitig alle Musiker auf der Bühne nur auf einem Bein hüpfend. Beim abendlichen Auftritt erwischen Thanateros ihren besten Tag. Der Sound stimmt, aber was noch viel wichtiger erscheint: Die Band spielt richtig befreit auf, erstmals scheinen sich die Bühnenerfahrungen der vergangenen Tage auszuzahlen – vor allen Dingen Sänger Ben wirkt wesentlich lockerer als zuvor. Obwohl es keine Zugabenrufe gibt, erntet das Quintett viel wohlwollenden Applaus. Hinter der Bühne steht derweil ein sehr seltsamer Holzkasten, der mit allerlei Trommeln und Becken geschmückt ist. Des Rätsels Lösung: Am Nachmittag haben In Extremo in der Gothaer Fußgängerzone Gerdi und Hans Kreß mit ihrem Leierkasten angetroffen. Kurzerhand wurden die beiden Musiker als zusätzlicher Act für den Abend engagiert. „Spielt so lange ihr wollt“, zeigt sich Das Letzte Einhorn gastfreundlich. Das Ehepaar lässt sich nicht lange bitten und stellt mit dem Rennsteig-Lied, der inoffiziellen Hymne Thüringens, den Saal auf den Kopf. So angeheizt, gibt das Publikum beim Auftritt von In Extremo von Beginn an alles. Phasenweise geht es vor der Bühne fast ein wenig ruppig zu. Die Band ist gut drauf: Als „Vor vollen Schüsseln“ in einer Akustik-Variante erklingt, hält Gitarrist Sebastian alias Der Lange dem erstaunten HAMMER-Schreiberling eine eiskalte Wodkaflasche unter die Nase. Das ist nur ein Beispiel für die Freundlichkeit und Offenheit der Berliner: Daher noch einmal vielen Dank an alle Beteiligten – herzlicher kann man sich nicht aufgenommen fühlen.
(Stefan Müller/ Hammer 1/ 02)
Während In Extremo in Frankreich spielte, wurde ich von meiner alten Band Freygang zu ihrer Record Release-Party in den „Hof 23“ in Berlin eingeladen und konnte, nach so langer Zeit, endlich mal wieder zwei Songs mitspielen – ich weiß gar nicht mehr genau welche, aber ich hätte wahrscheinlich auch das gesamte alte Programm noch im Kopf gehabt. Leider war das alles aber schon wieder 15 Jahre her, die Band war nicht mehr dieselbe und wahrscheinlich spielten mir auch nur die chemischen Reaktionen in meinem Kopf einen Streich. Aber es war ein unglaubliches Gefühl, endlich wieder einen angestöpselten Bass in der Hand zu halten – wenn er mir auch nach den ersten 2 Songs schon wieder zu schwer wurde. Die Chemotherapie forderte halt ihren Tribut. Doch ich wollte am 14.12. unbedingt wieder mit In Extremo auf der Bühne stehen – zum Heimspiel in der Berliner „Columbiahalle“.
Und es funktionierte: Obwohl noch etwas wacklig auf den Beinen, hatte ich mir diesen Tag zum Ziel gesetzt – obwohl mich Dagmar immer und immer wieder davor warnte, nichts zu überstürzen.
An diesem Abend wurde mir auch unser neuer Lichtmann Uwe Sesser (genannt „Aupe, der Zigarettenaupomat“) vorgestellt. Er fuhr schon die ganze Tournee mit, ebenso wie unser „neuer“ Tonmann Vadda (der auch schon bei Freygang mit von der Partie war und in den letzten Jahren für den Ton der Inchtabokatables verantwortlich war). Und auch den „Stiller“, zuvor Backliner der Letzten Instanz und von Thanateros, zog es in die In Extremo-Familie. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl mit der neuen Crew. Was sollte da noch groß schief gehen?
Ich würde schon nichts überstürzen und da In Extremo in den folgenden Tourtagen (bis auf die 3 Termine in Freiburg und Österreich) die Band BOON mit Toddy am Bass als Support mit dabeihaben würden, wollte ich es trotzdem wagen. Zur Not würde Toddy wieder für mich einspringen können, der mich die ganzen letzten Konzerte über so großartig vertreten hat. Ich bin ihm wirklich eine ganze Menge schuldig…
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